Zitat aus Der Spiegel,
Hamburg, 1966, Nummer 47: "V-MÄNNER Dr. Hans Kluth, Mitarbeiter im Bundesamt für Verfassungsschutz, hob die Hand zum Eid. Vor dem Landgericht Lüneburg beschwor er, daß der angeklagte Drucker Otto Hans vom 5. September 1962 bis Mitte Juli 1963 an einer "Jahresschulung" der SED auf der "Ernst-Thälmann-Schule" bei Schönebeck in der Schorfheide teilgenommen habe. Der Belastungszeuge Kluth bezog sein Wissen von zwei V-Männern seiner Dienststelle. Deren Berichte aus der DDR, so versicherte er, seien stets zuverlässig. Vier Tage nach dem Schwur stand fest: Kluths Eid war falsch. Der Angeklagte, vor Gericht wegen Geheimbündelei und Rädelsführerschaft in der verbotenen KPD, hatte beweisen können, daß er mindestens bis zum 21. September 1962 ununterbrochen in der Bundesrepublik gewesen war. Was dem Drucker Otto Hans widerfuhr, ist in der Bundesrepublik Rechts -Alltag. Immer wieder werden Urteile in politischen Prozessen durch anonyme Zeugen beeinflußt, die fabulieren können, soviel sie mögen, ohne wegen Meineids belangt zu werden: die Spitzel westdeutscher Nachrichtendienste. Diese Vertrauens(V)-Leute, mitunter Agenten für Ost und West gleichzeitig, haben in der bundesdeutschen Strafrechtspflege eine einzigartige Vorrangstellung: Sie dürfen belasten, ohne vor Gericht auftreten zu müssen. Kein Gericht kann sie zur Verantwortung ziehen, kein Verteidiger ihre Aussage erschüttern. Während jeder andere Zeuge den Richtern und den Staatsanwälten, den Rechtsanwälten und den Angeklagten Rede und Antwort stehen muß, wird der V-Mann nur von einem vernommen: von einem Beamten, etwa des Bundesverfassungsschutzes, der später in der Hauptverhandlung als sogenannter Zeuge vom Hörensagen aussagt. Der Zeuge selber bleibt im dunkeln, sein Name wird nie genannt. Seit langem nennen renommierte Strafrechtler diese Methode beim Namen: so der Kölner Professor Ulrich Klug, für den "die Behandlung der V Leute durch unsere Gerichte ... ein eklatanter Verstoß gegen die Menschenrechtskonvention" ist; so der Bonner Rechtsanwalt Professor Heinz Meilicke, der in der angesehenen "Neuen Juristischen Wochenschrift" einen erheblichen Einbruch in die Grundsätze unseres Rechtsstaats" konstatierte. Und der Anwalt Dr. Adolf Arndt befand, daß auf diese Weise "der Artikel 103 Absatz 1 GG* von jedem Sinn entleert" werde. Freilich: Die bundesrepublikanische Praxis ist nicht neu. So verurteilte in der Weimarer Zeit das Reichsgericht einen Walter Bullerjahn wegen Landesverrats zu 15 Jahren Zuchthaus. In der Hauptverhandlung hatten mehrere Untersuchungsrichter und ein Kriminalkommissar bekundet, ein glaubwürdiger V-Mann habe - wiederum von anderen Leuten - gehört, Bullerjahn sei zunächst mit der englischen, später auch mit der französischen Abteilung der Interalliierten Militärkommission** in Verbindung geraten und bereit gewesen, Briten und Galliern Geheiminformationen zu beschaffen. Das Reichsgericht: "Der ungenannte Vertrauensmann ist ... über jeden Zweifel erhaben." Er war es nicht. Nach Jahren im Zuchthaus wurde Bullerjahn in einem Wiederaufnahmeverfahren vom Reichsgericht freigesprochen. Der "über jeden Zweifel erhabene" V-Mann war als krankhafter Lügner entlarvt worden. Mit welch vagen Beweismitteln auch in der Nachkriegszeit politische Prozesse geführt wurden, zeigte ein Verfahren gegen einen Diplomdolmetscher wegen Staatsgefährdung vor dem Düsseldorfer Landgericht. Als Belastungsmaterial dienten in diesem Prozeß unter anderem angebliche Originalprotokolle des kommunistischen "Deutschen Friedenskomitees", die weder Unterschrift noch Siegel trugen. Die Staatsanwaltschaft benannte einen Kriminalbeamten des zuständigen politischen Kommissariats - der beschwor, eine "vertrauenswürdige Person" habe ihm Originalschriftstücke übergeben. Urteil: neun Monate Gefängnis. In diesem wie in zahlreichen anderen Verfahren verließen sich die Richter auf Zeugen, die für die Wahrheit ihrer Aussagen manchmal soviel bürgen konnten, wie 1894 der französische Major Henry. Im Jahrhundertprozeß gegen den angeblichen Landesverräter Dreyfus begegnete Belastungszeuge Henry der Auf forderung des Gerichts, seine V-Leute zu nennen: "Wenn ein Offizier in seinem Kopf ein furchtbares Geheimnis hat, vertraut er dieses nicht einmal seiner Mütze an. Aber ich schwöre, daß der Hauptmann Dreyfus der Verräter ist." Das furchtbare Geheimnis entstammte gefälschten Dokumenten; Dreyfus wurde zwölf Jahre nach seiner Verurteilung zu lebenslänglicher Deportation freigesprochen. Unbeschwert verlassen sich deutsche Richter auf Zeugen von Zeugen, seit der Bundesgerichtshof 1962 dieses Beweismittel für Rechtens erklärt hat. Damals bestätigte das höchste deutsche Gericht ein Gefängnisurteil gegen den Kaufmann Hans Jennes, der im nordrhein-westfälischen Landtagswahlkampf 1958 als unabhängiger Kandidat aufgetreten war. Zuvor hatten vor dem Landgericht Düsseldorf Polizeibeamte anstelle von "nicht selbst als Zeugen freigegebenen Gewährsleuten" bekundet, Jennes habe In der DDR an einer Vorstandskonferenz der verbotenen KPD teilgenommen, auf der beschlossen worden sei, Kommunisten als "unabhängige" Kandidaten, in den westdeutschen Wahlkampf zu schicken. In letzter Instanz dekretierten damals die Bundesrichter: - "Die Vernehmung eines Zeugen vom Hörensagen" verletzt nicht den ... Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme." - "Die Pflicht zur Gewährung rechtlichen Gehörs (Artikel 103 Absatz 1 GG) ist nicht verletzt." - Auch die Menschenrechtskonvention sei nicht verletzt, die dem Angeklagten das Recht garantiert, "Fragen an die Belastungszeugen zu stellen oder stellen zu lassen und die Ladung und Vernehmung der Entlastungszeugen unter denselben Bedingungen wie die der Belastungszeugen zu erwirken". Unbehagen an dieser Rechtsauffassung spürt nicht mehr nur eine kleine Gruppe von Gelehrten und Strafverteidigern; es erreichte inzwischen einen guten Teil der deutschen Juristenschaft. Die "Strafrechtliche Abteilung" des Juristentages verabschiedete Ende September In Essen eine Entschließung: "Die Ergebnisse der Ermittlungen eines V Mannes sollen nur durch dessen eigene, mündliche Zeugenaussage vor dem erkennenden Gericht in das Hauptverfahren eingeführt werden können." Und der Tübinger Strafrechtsprofessor Karl Peters faßte für die versammelten Kollegen noch einmal die Bedenken gegen diese Gerichtspraxis zusammen: "Der Bundesgerichtshof beschränkt die Verteidigung. Dem Angeklagten wird die Möglichkeit genommen, zur Existenz, zur Persönlichkeit und Glaubwürdigkeit des V-Mannes Stellung zu nehmen und Beweisanträge zu stellen. Die Beweisführung und Überzeugungsbildung liegt völlig im dunkeln." Peters weiter: "In doppelter Hinsicht erfolgt eine unzulässige Rollenvertauschung: Der Kriminalbeamte übernimmt die Rolle des Zeugen über den Tatvorgang. Aus dem Verfolgungsbeamten wird er zum Beweismittel. Gleichzeitig übernimmt er die Rolle des Richters hinsichtlich der Würdigung der Persönlichkeit des V-Mannes." Und auch Werner Sarstedt, Präsident des 5. Senats beim Bundesgerichtshof, schien in Essen behutsam von dem 62er Grundsatzurteil des 3., des politischen, Senats abzurücken: Die Urteilsbegründung sei damals doch "vorbehaltvoll" gewesen und habe "ein gewisses Unbehagen des Senats durchblicken" lassen. Schließlich, so sinnierte Sarstedt, müßten auch die Engländer ohne das "Indirekt vermittelte V-Manns-Wissen auskommen - und England steht noch". * Vor Gericht hat jedermann Anspruch auf rechtliches Gehör." ** Die Kommission überwachte die im Versailler Friedensvertrag festgelegte Abrüstung Deutschlands. Justiz-Opfer Dreyfus (M.)* Geheimnis vom Hörensagen * Nach der Revisionsverhandlung in Rennes 1899." |
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Detlef Belau |
September 2009 |