Aus den Erinnerungen des Oberlandesgerichtspräsidenten
Prof. Paul Sattelmacher (Naumburg) vom
11. April bis 17. Juni 1945

 

11. April
Die Konferenz der Behördenchefs beim Oberbürgermeister konnte nicht stattfinden.


12. April
Die Nacht verlief unruhig. Es waren viele Flieger in der Luft.

Der Kampfkommandant Oberst Franz Bierbrauer von Brennstein (Wehrbezirkskommandeur) will die Stadt verteidigen. Oberbürgermeister Bruno Radwitz widerspricht ihm und wird für eine kampflose Übergabe der Stadt aktiv.

 

13. April
"Das war heute der traurigste Geburtstag, den ich erlebt habe in 66 Jahren!", notiert Paul Sattelmacher. Gegen 9 Uhr begibt er sich in das Gebäude des Oberlandesgerichts zur Besprechung der allgemeinen Lage.

 

Oberlandesgericht Naumburg, etwa 2007

 

Abends werden in Naumburg zehn Personen verhaftet. Sie sind verdächtig Mord- und Sprengstoffanschlägen, nicht nur gegen die die Besatzungsmacht, sondern auch gegen den Bürgermeister (Bruno Radwitz) begehen zu wollen sein.

 

14. April
"Für 9 Uhr hatte ich einen Gefolgschaftsappell anberaumt. Auf dem Hinwege wurde ich aber von einer Militärpatrouille mit vorgehaltenem Gewehr zurückgewiesen. "Ausgehverbot" hieß es; hernach stellte sich aber heraus, dass nur die Passage über den Roonplatz und Kaiser-Wilhelm-Platz gesperrt war."


Kaiser-Willhelm-Platz mit Blick zum Roonplatz (Etwa um 1900, Bild digital bearbeitet.)

 

Vernehmung von Paul Sattelmacher zusammen mit Generalstaatsanwalt Hermann Hahn im Rathaus durch einen amerikanischen Offizier. Gegenstand ist die Tätigkeit des Wehrwolfs. In der letzten Nacht sollen zwei amerikanische Offiziere erschossen worden sein. Trifft zu Hause (Claudiusstraße) ein.


Claudiusstrasse (2007)

 

Wird durch zwei amerikanische Offiziere verhaftet. Kommt in das Nachbarhaus auf den Boden. Am nächsten Tag erfolgt seine Freilassung.

 

15. April (Sonntag)
"In der Nacht ist wieder eine üble Schießerei zwischen Zivilpersonen und amerikanischen Militär vorgekommen." Sitzung auf dem Rathaus mit dem amerikanischen Befehlshaber. Anschließend Unterredung mit Capitain Moore.

 

17. April
Der Zutritt zum Oberlandesgericht auf dem Georgenbergs wird dem Oberlandesgerichtspräsidenten mit seinen Mitarbeitern verweigert. Im Amtsgerichtgebäude (Markt) nimmt er für sich und seine Mitarbeiter zwei Zimmer in Anspruch.


Markt mit Amtsgerichtgebäude (2005)

 

Es hat "in Geschäften und Privathäusern viel Plünderungen und sogar Vergewaltigungen gegeben, an denen aber nicht amerikanische Soldateska, sondern französische, polnische, und russische Zivilarbeiter beteiligt gewesen sein sollen."

"Zwei widersprechende Gerüchte: Angeblich soll im Rundfunk gesagt sein, Naumburg sei der Schandfleck des Gau, da es sich kampflos übergeben habe. Das andere: Im deutschen Wehrmachtsbericht habe es geheißen: Naumburg habe sich bis zum letzten Mann verteidigt und sei nach heftigen Straßenkämpfen in die Hand des Feindes gefallen."

 

19. April
Paul Sattelmacher begleitet Fräulein Blühm nach Hause. "Heute wieder ein beruhigender Tag, da ich das Haus räumen sollte. Cptn. Lorenz gab mir indessen ein Schild Off limits to all military personal. Hoffentlich hilft es."

"Morgen ist der Geburtstag des Führers. Alle Welt hofft, dass dann eine Wende eintritt. Es heißt, dass an diesem Tage neue entscheidende Waffen eingesetzt werden sollten. Ein letzter Hoffnungsschimmer. Wenn wir solche Waffen haben - Zeit, ihr Anwendung aufzuschieben, haben wir nicht mehr."

Die ganz Bürgerschaft dankt Oberbürgermeister Bruno Radwitz, dass er die Stadt kampflos übergeben hat.

 

20. April
"In meinem Briefkasten liegt ein Zettel mit aufgeklebten Zeitungszeilen: Die Todesstrafe dem Judenfreunde".

 

21. April
"Meine Befürchtung, dass das Off limits-Schild mich nicht mit Sicherheit vor Beschlagnahme bewahren werde, hat sich bewahrheitet. Um halb drei Uhr nachmittags kamen ein Leutnant und ein Soldat und forderten erneut die Räumung des Hauses. …. Bis 6 Uhr musste geräumt werden."

 

23. April
Auf dem Amtsgericht Naumburg nimmt er die neuesten Befehle zur Kenntnis. Danach "kann es keinen Zweifel unterliegen, dass ich aus meinem Amt entlassen bin".

"Sollte Radwitz [der Oberbürgermeister] wirklich Recht haben, das ich als scharfer Nazi-Aktivist bei der Militärregierung gelte."

 

24. April
"Welcher Macht wird die Besatzung zufallen? Den Russen, heißt es bis zur Elbe und Saale. Dann heißt es fliehen, wenigstens bis über die Saale herüber, um nicht diesen "Menschenschlächtern" in die Hände zu fallen. Ahne im Grunde: Wäre es nicht vielleicht das Beste, was uns zustoßen kann, zu sterben?"

 

25. April
Sonst nichts Neues.

 

26. April
Nachmittag weilt Paul Sattelmacher zusammen mit anderen acht anderen Herren von der Donnerstagsgesellschaft bei Mohrmann zu einem Glas Wein. Sein Haus in der Claudiusstraße 10 ist bisher nicht belegt. Ob er es wieder beziehen kann ist ungewiss (27. April).

 

28. April
Nicht neues in der allgemeinen Lage und der Justiz. Es scheint als will man alle diejenigen, die bis zum 1. Juli 1944 im Wehrdienst standen, in Kriegsgefangenschaft nehmen.

 

29. April
"Sonntag Kantate. Sehr eindrucksvoller Gottesdienst in der Othmarskirche."

Abtransport des Oberbürgermeisters und kommissarischen NSDAP-Kreisleiter Bruno Radwitz. [Beide waren miteinander gut bekannt.]


30. April
Neue Gesetze der Militärregierung

 

2. Mai
Banken geöffnet. Monatlich können 300 Reichsmark abgehoben werden. Besuch bei Generalstaatsanwalt Hahn und Grussendorf beim Polizeichef Hoffmann.

 

3. Mai
"Gestern abend und heute morgen", schreibt Paul Sattelmacher, " bekam ich Augenzeugenberichte - deutsche ! über das Konzentrationslager Buchenwald bei Weimar, Berichte zuverlässiger Männer. … Ich bin auf das tiefste erschüttert und habe mich vor Entsetzen und vor Scham in meinem Dachkämmerchen eingeschlossen. Wie kann man sich noch unter Menschen sehen lassen, wenn deutsche - Menschen solch furchtbarere Gräueltaten fähig sind?! Wie kann man noch den Mut aufbringen; angesichts solcher Bestialitäten zu Gott zu beten: Vergib uns unsere Schuld. Kann solche Schuld noch vergeben werden, noch dazu wenn ein Volk sie auf sich lädt, das auf einer solchen Kulturstufe stand wie das deutsche Volk. Ich war vor dem ersten Weltkriege stolz darauf, ein Deutscher zu sein." "Unser armes Volk ist in seiner großen Masse gewiss schuldlos an diesen Scheußlichkeiten, die wir alle doch für völlig unmöglich gehalten haben und deren Vorkommen nun unfassbar ist."

 

4. Mai
Paul Sattelmacher verfällt in lange Monologe über die Umstände und Motive seiner Aufnahme in die NSDAP.

"Ich habe die ganze Nacht nicht schlafen können; der Gedanke an die Scheußlichkeiten in den K.Z.-Lagern lassen mich nicht los."

 

5. Mai
Besichtigung des OLG, welches gestern geräumt wurde.

[Er nimmt keine Notiz von der Kapitulation der Wehrmacht.]

 

9. Mai
Es ergeht von der Besatzungsmacht die Anordnung, dass der Verkehr der Justizangestellten mit der Besatzungsmacht über Paul Sattelmacher zu laufen hat.

 

10. Mai
Kirchgang. Besprechung mit Richtern.

 

11. Mai
Zusammenarbeit mit dem OLG-Rat Blüthgen.

 

15. Mai
Verhaftung von Landgerichtspräsident Wanke, Oberlandesgerichtsrat Beyer und Oberlandesgerichtsrat Siebert. Am nächsten Tag erfolgt der Abtransport im Pulk von insgesamt 61 Herren auf einem LKW der Besatzungsmacht. Darunter Oberstudienrat Professor Dr. Steche vom Domgymnasium.

 

17. Mai
"Nachts dringen dann betrunkene Soldaten in die Häuser ein, plündern, demolieren und belästigen Frauen und Mädchen."

 

19. Mai
Wieder Gespräche mit Generalstaatsanwalt Hermann Hahn über die Konzentrationslager. Der sprach inzwischen mit zwei ehemaligen Häftlingen aus Buchenwald. "Die beiden hätten zu den amerikanischen Veröffentlichungen nur den Kopf geschüttelt und folgendes gesagt: Was die Amerikaner vorgefunden und beschrieben hätten, sei in der Tat richtig, aber es betreffe das nur die Zustände der letzten Zeit. Die Amerikaner könnten aber nicht wissen - und wollten wohl auch nichts davon hören - dass es früher doch wesentlich anders gewesen sei und sie fragten nicht danach, wie es möglich gewesen sei, dass die Zustände so geworden seien."

 

22. Mai
"In der Nacht schweres Gewitter mit starken Regengüssen. Empfindliche Kühle. Seid gestern sind Wanke [Landgerichtspräsident, Landgericht Naumburg, Kaiser-Wilhelm-Platz 1 Präsidentenhaus] Beyer und Siebert wieder in Naumburg. Aber nicht zu Hause sondern auf den Höfen des Heereszeugamtes. [Gemeint ist möglicherweise das amerikanische Kriegsgefangenenlager in der Schönburger Straße] Unterkunft fehlt. Aufenthalt im Freien bei dem Wetter und bei Leuten, die ganz sommerlich gekleidet sind und denen man vor ihrer Festnahme das Mitnehmen eines Mantels verweigert hatte. Das gleiche Schicksal teilen an der gleichen Stelle 35.000 deutsche Kriegsgefangenen."

 

23. Mai
Wieder Verhandlungen mit der Militärregierung. Unklarheiten.

 

24. Mai
Erster Staatsanwalt Egidy, 80 Jahre alt, verhaftet.

 

25. Mai
"Endlich scheint es wärmer werden zu wollen, in den letzten Tagen war es empfindlich kühl und regnerisch. Das Schicksal unserer immer noch im Freien kampierenden Gefangenen in Naumburg - darunter immer noch Wanke, Siebert und Beyer ist bei diesem Wetter fürchterlich."

 

1. Juni
Ereignisreicher Tag. Bericht von Landgerichtspräsidenten Rummler ist eingetroffen.

 

2. Juni
"Am Dienstag kann ich nach Halle fahren. Besuch des Aufsichtsrichters aus Zeitz mit dem dortigen Kommandanten. Zeitz amtiert wieder! Desgleichen Eisleben und Merseburg."
Besuch von Landrat Quaas, der schreckliche Dinge von den Russen erzählt . "Gott gebe, dass nicht doch noch die Russen hier her kommen!"

 

5. Juni
Besuch bei Regierungspräsidenten Dr. Götte in Merseburg. Gute Pontonbrücke in Weißenfels. In LEUNA rauchen sieben Schornsteine.

Konferenz mit dem stellvertretenden Landgerichtspräsidenten Rummler und dem Oberstaatsanwalt Frerichs, der eben erst aus dem Konzentrationslager zurückgekehrt ist.

 

6. Juni
Ganz Naumburg spricht von der bevorstehenden Besetzung durch die Russen. "Es ist ja erstaunlich, dass England und Amerika so weite Strecken deutschen Bodens von den Sowjets besetzen lassen. Erstaunlich, weil gelegentlich, wenn auch sehr vorsichtig Äußerungen amerikanischer Offiziere erkennen lassen, das man in diesen Ländern augenscheinlich gar nicht sehr sowjetfreundlich gesinnt ist. Mann muss ich sich doch eigentlich darüber im klar sein, das dann die Bolschewisierung Europas wohl mit Sicherheit zu erwarten ist. Denn Italien und Frankreich sind bestimmt zu 75 Prozent schon jetzt bolschewistisch gesinnt, Belgien und große Teile von Holland desgleichen."

 

11. Juni
Fahrt nach Halle. Station bei Regierungspräsident Dr. Götte in Merseburg.

 

15. Juni
Vernehmung verschoben.

 

17. Juni
"OLG-Rat Blüt[h]gen, der das Amtsgericht wieder eröffnen sollte, ist plötzlich unbekannt warm abserviert worden. An seine Stelle ist eine Kommission getreten, besteht aus vier Anwälten - Karliotti, Hüttemann, Herzfeld, Liebering - und OLG-Rat Hartmann. Zentrum und Demokraten! Von der Verwaltung hat keiner von ihnen Ahnung."

 

Auszug aus den persönlichen Aufzeichnungen des Oberlandesgerichtspräsidenten Prof. Dr. Paul Sattelmacher (13.4.1879-1947), unveröffentlicht

 


Autor:
Detlef Belau


Oktober 2009