Arthur
Graf von Posadowsky-Wehner (1845-1932) Zweiter Teil etwa 1903 bis etwa 1907 Die Ära Posadowsky: 12. August 1893 bis 24. Juni 1907
Deutsch-amerikanischer Zollkrieg und Zusammenschluss europäischer Staaten + Handelsverträge 1905 + Bekämpfung und Annäherung an die Sozialdemokratie + Wer Recht erringen will, der muss .... + Ist die Überwindung der Sozialdemokratie möglich? + Christliche Arbeiterbewegung + Pietätsverhältniß + Das Vaterland und ein Gefühl der Ehre + Klassengesellschaft, Junkerherrschaft und Staat + Gerechtigkeit als Maßstab der Politik + Teilen macht Spass! + Empathie + Arbeiterfreundlich + Er kennt seine Aufgaben nicht, sagen die Arbeitgeber! + Selbstliebe als Lebensprinzip? + Plädoyer für die Zufriedenheit + Unglück, Pflicht und Menschlichkeit + Arbeitnehmerfreizügigkeit + Sozialpolitik zwischen Reform und Ökonomie + Widerstand gegen die Sozialpolitik: (a) Staatskrippe, (b) Aggravation und Simulation (c) Überforderung, (d) Bevormundung, (e) Deutsche Sozialpolitik nach Art von Georg Wilhelm Schiele + Staatssekretär f ü r Sozialpolitik! + Ein modernes Land braucht den Parlamentarismus + Absentismus versus Pflichtencodex + Das gastfreundliche Deutschland + Einkreisungs-Doktrin + Kolonialpolitik + Kolonialkongress + Aufstand der Maji-Maji + Weltpolitik im großen Stil + Kolonialidylle wider den Skandalen + Auflösung des Reichstags 1906 + Reichstagswahlkampf mit einem Bild von Graf von Posadowsky + Reichstagswahlen 1907 in Zahlen + Fehleranalyse + Bebels Nörgelpolitik + Die Probleme stapeln sich + Posadowsky oder Moltke? + Also hinaus mit ihm! + Fünf Gründe: "Bülow-Schlächterei", (Grafik) + Stürzt der "Vorwärts" Posadowsky im Auftrag des CDI? - Zentrumsnuancen und Blockpolitik - Abnutzungsstimmung - Ein ehrliches Wort zuviel! Dritter Teil etwa 1907 bis 1932
Deutsch-amerikanischer Zollkrieg zurück Am 3. Mai 1897 informiert der Staatssekretär des Auswärtigen Adolf Marschall von Bieberstein (1848-1920) den Reichstag, daß Deutschland aufgrund des protektionistischen Handelskurses der Vereinigten Staaten von Amerika, den Schriftwechsel vom August 1891 mit seiner Regierung zur Handelspolitik als hinfällig betrachtet. Jetzt steht die deutsche Regierung vor der Frage, ob die bisherigen Vergünstigungen für sie durch Anwendung niedriger Zollsätze aus dem Handel mit Österreich-Ungarn und anderen Staaten, weiter gewährt werden können. Außerdem erwägt die Reichsleitung 1897 die Kündigung der Meistbegünstigungsregel. Deutschland rechnet sich für seinen riesigen Export, 1896 3 ½ Milliarden Mark (RT 6.12.1897), die größten Chancen aus, wenn es ihn - zumindest in bestimmten Regionen - freihändlerisch realisieren kann. Die USA durchkreuzen diesen Plan. Mit den USA-Präsidenten-Wahlen am 3. November 1896 gelangt William McKinley (1843-1901) an die Macht und ordnet für die deutschen Schiffe umgehend die Tonnengebühr an. Seit dem 27. Juli 1897 gilt der Dingley-Tarif, der zu einer spürbaren Erhöhung der Zölle führt. Nelson Jr. Dingley (1832-1899) war ein republikanisches Mitglied des Repräsentantenhauses und einst Gouverneur von Maine. "Was die Höhe der Zollsätze betrifft," stellt er "seine Vorgänger noch weit in den Schatten". Die Hamburger Kaufmannschaft konstatiert im Jahresbericht 1897, dass der Dingley-Tarif alle schlechte Erwartungen weit übertraf. (Kanitz RT 11.2.1899, 785f.) Die Gereiztheit im deutsch-amerikanischen Handel speiste sich aus Empfindlichkeiten, die aus dem spanisch-amerikanischen Krieg von 1898 herrühren, wozu in der Öffentlichkeit die verbreitete Annahme des Übelwollens bestand.
Im Wettbewerb um eine aktive Handelsbilanz geht Deutschland 1899 mit einem Minus von 85,4 Millionen Dollar, was 363 Millionen Mark entspricht, klar als Verlierer vom Platz. Außerdem befürchtet das Handelskapital, dass sich die überseeischen Märkte von den handelspolitischen Beziehungen mit Deutschland loslösen. An der Unterbilanz reibt sich besonders das konservative Lager. Reichstagsabgeordneter G r a f H a n s v o n K a n i t z (1841-1913) und Genossen interpellieren am 6. Februar 1899 (783) betreffend der handelspolitischen Beziehung zu den Vereinigten Staaten von Nordamerika:
Wenn diese Entwicklung nicht unterbrochen, erläutert Graf Hans von Kanitz (RT 11.2.1899, 783f) in Ergänzung zur eingebrachten Interpellation, werden die Vereinigten Staaten in kurzer Zeit ein bedenkliches Übergewicht über die "alten Kulturländer Europas" erlangen. Das ist alles nicht so schlimm, redet an diesem Tag G r a f v o n P o s a d o w s k y erstmal die Schwierigkeiten herunter. Ein riskantes Manöver, denn einige Reichstagsabgeordnete, eben Graf von Kanitz und Dr. Roesicke, äußern bereits Zweifel, ob er auf handelspolitischem Gebiet dem Ausland mit dem erforderlichen Nachdruck entgegentritt. Im Anschluß an die Rede von Kanitz nimmt der Staatssekretär des Auswärtigen v o n B ü l o w das Wort, um auf die Interpellation von Kanitz und Genossen zu antworten. Grundlage bleibt, betont er, das preußisch-amerikanische Abkommen von 1828. Aus den bestehenden Abmachungen kann man folgern, dass Deutschland in allen Zollfragen die unbeschränkte Meistbegünstigung gewährt wird. Doch bei der Gewährung der Reichweite, speziell bei Zucker und den Tonnengeldern, soll dies der Fall gewesen sein, traten mit der amerikanischen Regierung Differenzen auf. Doktor E r n s t L i e b e r (*1838) aus Montabaur berichtet von schikanösen Zuständen im deutsch-amerikanischen Handel, beispielsweise durch die Erschwerung der Legalisation der Rechnungen. Jeder Fabrikant nuss vor einem amerikanischen Konsul erscheinen und von ihm die Richtigkeit der Rechnung bekräftigen. Ganz Elsaß-Lothringen muss, um seine Ausfuhr nach Nordamerika zu bewerkstelligen, entweder persönlich nach Kehl, wo der nächste amerikanische Konsul seinen Sitz hat, oder sich Bevollmächtigte in Kehl halten, welche im Auftrag der elsaß-lothringischen Ausfuhrhäuser den amerikanischen Konsul persönlich zu besuchen haben. Man nuss es einmal ganz offen aussprechen, das ist eine Schikane, wie sie kein anderes Land der Welt übt. "Daneben stehen und sind meiner Meinung nach viel bedrohlicher für die deutsche Einfuhr in Nordamerika die Maßregeln, welche dahin gehen, daß nicht der wirkliche Preis, zu welchem die Ware in Deutschland gekauft wird bezw. verkauft werden kann, also ihr reeller Werth, bei der Verzollung in New Jork zu Grunde gelegt werden soll, sondern eine beliebige, ganz willkürliche Preisfestsetzung, die von der Zollbehörde in New Jork einseitig vorgenommen wird." (Lieber RT 11.2.1899, 791) Nach Bülow, Interpellant Kanitz, Fürst von Bismarck, Freiherr von Heyl Herrnsheim und Eugen Richter, spricht an diesem Tag G r a f v o n P o s a d o w s k y : "So interessant gewiss und sogar wahrscheinlich vielleicht die Perspektive war, in welcher Herr Graf von Kanitz die Dinge zu entwickeln sahe, halte ich derlei Zukunftsbetrachtungen wohl mit Recht für wenig förderlich." Warum und weshalb, dazu scheut er jetzt und hier eine gründliche, tiefergehende Auseinandersetzung. Vielmehr müht er sich, dessen Einwände und Zweifel zu zerstreuen. Zunächst weist er daraufhin, dass die Bevölkerung der USA stark zunimmt. Auf industriellem Gebiet expandiert das Land. Das bedeutet einen fortgesetzten Rückgang der Ausfuhr von landwirtschaftlichen Erzeugnisse und weitere Steigerung der Ausfuhr von technischen Fabrikate. In Vereinigten Staaten von Amerika sehen wir ein ständiges Anwachsen der Export und Absinken der Importe, infolgedessen eine aktive Handelsbilanz. Der Außenhandelsüberschuß stieg von 1895 bis 1898 um 2600 Prozent. (Posa RT 11.2.1899, 802) Natürlich ist die Lage ernster, als es P o s a d o w s k y im Februar 1899 zugibt. Denn im Gegensatz zu den Industrieländern Europas erwirtschaftet die USA eine aktive Handelsbilanz: 1899/1900 Einfuhr / Ausfuhr: 849,7 / 1394 Millionen Dollar (vgl. Cunow 1900). Man darf also, wie Posadowsky richtig sagt, die Probleme nicht allein auf die Zollgesetzgebung zurückführen. K a n i t z, B ü l o w und P o s a d o w s k y finden in dieser Reichstagssitzung in der Einsicht zusammen: Deutschland bleibt nach England für die Handelsbeziehungen mit Amerika das wichtigste Land. Ein Zollkrieg ist nicht empfehlenswert. Eine lange Reihe von Zollsätzen nach dem Maßstab ihres Tarifs würden die Amerikaner als Herausforderung aufnehmen. Ebenso steht eine allgemeine Zollerklärung zwischen Europa und den Vereinigten Staaten nicht in Aussicht. Früher oder später - hofft man - hält im Handel der nichtamerikanischen Staaten der autonome Tarif Einzug. Die Übertreibung bringt die Heilung und irgendwann wird der Dingley-Tarif abgeschafft. (Posa RT 11.2.1899, 802) Wie weit die Übereinkunft zwischen P o s a d o w s k y und K a n i t z an diesem Tag reicht, ist nicht klar zu erkennen, wäre aber in jedem Fall interessant zu wissen, denn der Konservative (DKP) spielt bei seinem Sturz im Juni 1907 eine aktive Rolle. Aus seiner Reichstagsrede vom 11. Januar 1901 ist zu entnehmen, dass es weitere Differenzen gab. "Wir legen auf ein gutes Einvernehmen mit Russland den größten Wert," betont Kanitz. "Wir wünschen nur, dass alle Länder möglichst paritätisch behandelt werden. Bei Abschluss der bestehenden Handelsverträge ist aber Amerika entschieden günstiger behandelt worden." (LV 12.01.1901) Worauf die leidenschaftlich geführte amerikanisch-protektionistische Außenhandelspolitik abzielt, ist eindeutig: die Verdrängung der deutschen Waren vom amerikanischen Markt. Was sie wirklich an Reaktionen in elitären Kreisen Deutschlands und an strategischen Überlegung in der Wirtschaft- und Handelselite hervorruft, ist schwieriger zu überschauen. Jedenfalls äußern am 3. Mai 1897 in der Reichstagsdebatte Abgeordnete Kritik an der amerikanischen Invasion. C o r n e l i u s v o n H e y l z u H e r r n s h e i m (1843-1923) von der Nationalliberalen Partei moniert am Verhalten der Amerikaner ihre moralische Unausgewogenheit. Die "amerikanischen Techniker" füllen "unsere Universitäten und bringen deutsche Wissenschaft und deutsche Technik nach Amerika." Dafür "benehmen" sie sich "in rücksichtsloser Weise. Wir haben bedauerlicher Weise aus unserem Maximaltarif einen Minimaltarif gemacht und damit eine wichtige Waffe aus der Hand gegeben. Wir lassen uns vom Ausland viel zu häufig schikanieren." Reichstagsabgeordneter E u g e n R i c h t e r, Freisinnige Volkspartei, warnt, die Marshall-Erklärung und sie begleitende Debatte im Reichstag könnte den "nationalen Chauvinismus" wecken. Beim Abgeordneten H e y l sieht er ein Überwuchern der agrarischen Interessen. Trotz schwerer Folgeprobleme der Hochschutzzollpolitik, empfiehlt er, Deutschland soll an der Meistbegünstigung festhalten. Er empfindet es es als schmerzlich, erklärt der Staatsminister, Staatssekretär des Innern und Bevollmächtigter im Bundesrat G r a f v o n P o s a d o w s k y
im Reichstag, dass das handelspolitische Verhältnis zu Amerika bisher noch nicht geregelt werden konnte. "Wir haben sehen müssen, dass, während Amerika fortwährend unsern ganzen Konventionaltarif eingeräumt erhält, diese Land seinerseits seine Zölle in einer Weise erhöht hat, die zum Theil einen prohibitiven Charakter annimmt, und diese Zollerhöhung durchführt in einer Weise, welche für die deutsche Industrie außerordentlich lästig ist (Sehr wahr. rechts)." Dieses gewaltige Land versucht immer mehr sich gegen die europäischen Staaten abzuschließen. "Auf der anderen Seite hat uns England den Vertrag gekündigt, durch den ausgeschlossen war, dass das englische Mutterland Vorzugszölle in den einzelnen Kolonien gegenüber den deutschen Bundesländern einführen konnte. .... Daß aber in England die Neigung besteht, auf diesem Wege fortzufahren und uns so zu Gunsten englischer Fabrikate mit der Ausfuhr unserer Fabrikate zu differenzieren und so vielleicht von dem ganzen Markte des englischen Weltreichs, das ist eben so unzweifelshaft. Stellen sie sich also, bitte, vor: wenn Nordamerika, in seiner ungeheuren Ausdehnung und mit dem Einfluß, den es auch auf andere amerikanische Staaten übt, und wenn ferner das englische Weltreich versucht, uns in diese Weise mit unserer Produktion von dem Weltmarkt auszuschließen:
Daß unter diesen Verhältnissen der Wunsch bei uns rege ist, daß wir wenigstens auf dem noch verbleibenden Theile des Erdballs eventuell mit gleichen Machtmitteln auftreten, wie England, wie Amerika, dass wir auch mit gleicher Autorität auftreten können, wie unsere handelspolitischen Konkurrenten - das ist, glaube ich, gerechtfertigt, und hierin liegt auch die eigentliche innere Ursache, weshalb im deutschen Volke
Von der Anwendung eines autonomen oder Konventionaltarifs hält P o s a d o w s k y nichts (RT 22.02.1906, 1512), weil damit nur die Industrieerzeugnisse erfaßt würden. Reichstagsabgeordneter C o r n e l i u s v o n H e y l z u H e r r n s h e i m (1843-1923) artikulierte, "das(s) eine allzugroße Nachgiebigkeit gegenüber Amerika, einseitige Zugeständnisse nicht die Wirkung haben würden" "deutsche Exporte zu fördern" (RT 11.2.1899, 796). Er wendet bei der Führung der deutsch-amerikanischen Handelsbeziehungen, was er nicht so dahin sagt, gegen eine Verschärfung der Gangart. Etwas anderes, also eine andere Herangehensweise, würde seinen Erfahrungen widersprechen, die er 1899 vor dem Reichstag so zusammenfasst: Eine Interessengruppe die durch Massregeln eines anderen Staates geschädigt ist, möchte sofort, dass man à tout prix einen Zollkrieg anfinge. Es kommt also sehr darauf an, mit welchem Teil des deutschen Volkes und mit welchen Interessierten man verhandelt. Welche Gebiete unserer Industrie sind geschädigt und kann die Industrie eventuell den Schaden tragen? Ist er vorübergehend oder ist er von Dauer? "Daß ist die Grundlage, von der aus die Regierung die handelspolitischen Fragen betrachten muss." (Posa RT 16.6.1899, 177) Am 22. Februar 1906, also sieben Jahre später gibt F r e i h e r r H e y l z u H e r r n s h e i m vor dem Reichstag folgenden Überblick zum Stand des deutsch-amerikanischen Handelsstreits: "Ich habe vorhin schon angeführt, daß die zollpflichtigen amerikanischen Rohwaren, die Massenartikel, die wir weiterhin beziehen, früher mit 27 Prozent ihres Wertes belastet waren, jetzt aber mit 40 Prozent verzollt werden sollen. Diese Erhöhung ist für Amerika ja tatsächlich eine fühlbare Wirkung unseres neuen Zolltarifs, und ich habe vorhin schon erwähnt, daß die dabei beteiligten landwirtschaftliche Interessenten infolgedessen in dieser Frage auch beruhigter sein können als die Industrie, indem die amerikanischen Fabrikate von 27 Prozent der seitherigen Belastung nun auf 28 Prozent in die Höhe gebracht sind. Tatsächlich wird der Zollbetrag, den Amerika für die Fabrikate, die es bei uns einführt, zu zahlen hat gegenüber dem früheren Handelstarif nur um 3 Millionen erhöht. Amerika zahlt in Zukunft für seine Fabrikate 78 Millionen Mark Zoll, während es bisher 75 Millionen gezahlt hat." Auf der Tagesordnung des Reichstages steht am 22. Februar 1906 (1495) die Erste und zweite Beratung zum Entwurf eines Gesetzes, betreffend die Handelsbeziehungen zu den Vereinigten Staaten von Amerika. Reichskanzler B e r n h a r d v o n B ü l o w legt sich fest:
Durch die Bewilligung, versuchen wir uns im Guten zu verständigen. (Er will also keinen Handelskrieg.) Bei Abschluss bis zum 1. März 1906 ergäbe sich die Möglichkeit dem Partner, die Sätze unserer Handelsverträge bis zum 30. Juni 1907 zu gewähren. Betont aber, dass sich der Abschluß eines deutsch-amerikanischen Handelsvertrages bis zu diesem Tag als unmöglich herausgestellt hat. "Es handelt sich also um einen Akt der autonomen Gesetzgebung", womit der Unterschied zur Position von Posadowsky vom 22. Februar 1906 sichtbar, "und dadurch wird zugleich zum Ausdruck gebracht, daß die Vereinigten Staaten bei uns ein Recht auf Meistbegünstigung haben." (Ebenda 1494) Der US-Senat lehnt 1906 die Zollerleichterung für Deutschland ab. (vgl. Heyl 1906 1509 ff.) - Wir räumen, sagt der Reichskanzler, Zollermäßigungen ein, zu denen wir nicht verpflichtet sind. In einem Atemzug damit beteuert er, "keine politische Freundschaft mit einer Benachteiligung unserer Wirtschaft" erkaufen zu wollen. Als Endtermin bis zu welchen Tag die Vereinigten Staaten die Zollsätze unseres Konventionaltarifs statt der Sätze unseres Generaltarifs gewährt werden dürfen, schlägt er den 30. Juni 1907 vor (vgl. RT 1494). Noch immer handelt es sich,
bei den Handelsbeziehungen zu den Vereinigten Staaten von Amerika
Von der gesetzgebenden Körperschaft des Reiches erhielten sie lediglich die Vollmacht, diesen für die Dauer von 17 Monaten ein Konventionaltarif einzuräumen. "Es handelt sich also nicht um eine definitive Maßregel, sondern nur um eine rein provisorische, die in der Hoffnung getroffen ist, daß es in dem gegebenen Zeitraum möglich sein würde, zu einem Abkommen mit den Vereinigten Staaten von Amerika zu gelangen, welches den berechtigten Wünschen Deutschlands einigermaßen Rechnung trägt." [Zusammenschluss europäischer Staaten zurück] Die amerikanische Invasion rollt mit der Hochschutzzollpolitik und dem Dingley-Tarif an. Im Resultat entsteht ein Überschuß mit Deutschland. Weil er schwere volkswirtschaftliche Widrigkeiten und Gefahren für Deutschlands Sozialsystem fürchtet, geißelt, wie nicht anders zu erwarten, P o s a d o w s k y (RT 6.12.1897, 58) diese ambitionierte protektionistische Außenhandelspolitik. Bloß die letzten Konsequenzen spricht er in diesen Tagen nicht aus: Deutschlands Aufstieg zur Industrienation und die Verteidigung der Arbeiterschutz - und Sozialgesetzgebung verlangt die Sicherung der staatlichen Souveränität (Staatshoheit). Zunächst könnte das durch a) Gründung einer Europäischen Zollunion oder b) einen direkten Zusammenschluss der europäischen Staaten erreicht werden. Die politischen Folgen für Europa zu durchdenken, überlässt der Staatssekretär des Inneren zum Beispiel F r i e d r i c h H a m m a c h e r (1804-1904) von der Nationalliberalen Partei (NLP). Der Reichstagsabgeordnete für den Wahlkreis Duisburg, Mühlheim an der Ruhr und Oberhausen gibt am 9. Dezember 1897 (RT 96) zu Protokoll:
nothwendig ist, um in dem Kampfe ums wirthschaftliche Dasein, den die Völker im nächsten Jahrhundert führen werden, erfolgreich in dem Wettbewerbe
Aber Deutschland fällt dabei eine wesentliche Aufgabe zu als demjenigen kontinentalen Staate, der schon heute die stärksten Exportinteressen hat. Deutschlands Pflicht ist es deshalb, sich rechtzeitig mit den nöthigen Machtmitteln auszustatten, um bei der Lösung dieser Aufgabe mitwirken zu können."
Die Handelsverträge von 1905 zurück Den sieben Handelsverträge - Rußland, Italien, Belgien, Ungarn, Rumänien, Schweiz, Serbien - nahm "unter lautem Hallo und Juche der junkerlichen Treiber" am 22. Februar 1905 der Deutsche Reichstag an. Die Annahme der meistbefehdeten Verträge Österreich-Ungarn und Rußland erfolgte mit einer stattlichen Mehrheit von 226 gegen 79 beziehungsweise 228 gegen 81 Stimmen. (Vgl. Cunow 1905) Die Aushandlung der Verträge mit ihren sieben Zusatz-Verträge, die einen komplizierten Regelungsbedarf für die Kündigung der Altverträge erfordern und Ratifizierungsprozesse in den Ländern der Handelspartner nachsichziehen, dauerte drei Jahre. Franz Mehring greift noch am selben Tage zum Stift. Das Ergebnis erscheint im SPD-Organ die "Neue Zeit" als Aufsatz über Siegestaumel und Siegesangst, der vorhersagt: "Der heutige Tag, wird in der deutschen Geschichte einen historischen Markstein bilden. .... Man kann dem Grafen Posadowsky als Macher der Handelsverträge heute ein Gefühl des Triumphes nachempfinden." Die Zentralfigur der Schacherei um Zölle, Barrieren und Vergünstigungen im Handel beschloss den Tag der Abstimmung mit einer temperamentvollen Rede vor dem Plenum. Vom Reichskanzler gab es Glückwünsche, von den Agrariern stürmischen Beifall, aus den Händen des Kaisers den Schwarzen Adlerorden und von den Sozialdemokraten viel Kritik. Offenbar tat es seiner Anerkennung keinen Abbruch, dass er in seiner Rede einräumte, dass die Handelsverträge die junkerliche Position stärken. Die Industrie war wegen des Zwistes mit den Arbeitern machtlos. Den Kampf gegen die Junker wagte sie nicht. Seinerseits sucht Posadowsky in der Handels- und Zollgesetzgebung nach Kompromissen, um den realen ökonomischen Interessen der verschiedenen Klassen, Verbände und Wirtschaftsgruppen Rechnung zu tragen.
Zur Vorbereitung des Abschlusses des österreichisch-deutschen Handelsvertrages reiste er am 1. November 1904 nach Wien und stieg im Hotel "Krantz" ab. Am Tag darauf empfing ihn der Kaiser zu einer Audienz. Die Vossische aus Berlin lobt am Tag nach der Abstimmung "die Hauptfigur in dem handelspolitischen Spiel" und hebt hervor,
Heinrich Cunow (1862-1936) erkennt in den Handelsverträgen von 1905 (705, 707) eine Abkehr von den Caprivischen Handelsverträgen der neunziger Jahre und die Rückkehr zur bewährten Tradition des Bismarck`schen Wirtschaftens, die den einheimischen Markt der Agrarproduzenten auf Kosten der deutschen Industrie und der dort beschäftigten Arbeiter sichern. D a m a l s wurde mit Wirkung vom 1. Januar 1892 der Zoll für Weizen und Roggen auf 3,50 Mark, für Hafer auf 2,80 Mark und für Gerste auf 2 Mark pro 100 Kilogramm herabgesetzt. Mitte 1894 traten die deutsch-russischen Handelsverträge in Kraft. Damit verbunden war die Aufhebung des sogenannten Identitätsnachweises für die Ausfuhr von inländischen Getreide und Mühlenfabrikate. Hierbei erfolgt die Verrechnung und Abrechnung des Exports und Höhe des Zolls so, daß ein Preisdruck nicht eintreten konnte. Gegen die Zollermäßigung eröffneten die Agrarier eine wütende Agitation. Das führte zum Bülowschen-Zolltarif, indem die Mindestzölle für Weizen auf 5,50 Mark, für Roggen auf 5 Mark, für Hafer auf 5 Mark und Malzgerste auf 4 Mark pro 100 Kilogramm heraufgesetzt worden. Lediglich für Futtergerste ist der Zolltarif auf 1,30 Mark herabgesetzt. Die Agrarzölle haben die steigende Einfuhr von landwirtschaftlichen Erzeugnissen nicht verhindert. (Gothein 1909, 7f.) Gegenwärtig sind die neuen Vertragssätze ein Mehrfaches höher als die bisherigen, für Kühe und Jungvieh sogar mehr als die von der Regierung in ihren Tarifentwürfen vorgeschlagenen Höhe. Zur Verteuerung der Lebensmittel durch Agrarzölle und Verminderung der Arbeitsgelegenheit, tritt die Verteuerung der Industrieprodukte durch die Preispolitik der Syndikate. (Cunow 1905, 710)
Nun werden die Agrarier, "fürchtet Franz Mehring (SPD), "die "Hungerpeitsche über die Volksmassen" schwingen." Dagegen wird eine Handvoll von Gutsbesitzern, die "nur ein rudimentäres Organ am nationalen Körper bilden", sich die Taschen "zum Zerplatzen füllen." Was Siegestaumel und Siegesangst weiter mitteilt, fällt für die H a u p t f i g u r (Vossische Zeitung) nicht günstig aus:
"Der Industrie", was Franz Mehring beunruhigt, werden die Handelsverträge "schwere Wunden schlagen und der arbeitenden Bevölkerung den notwendigen Lebensunterhalt in unerträglicher Weise verteuern." Der schwerwiegendste Nachteil der Schutzzollpolitik ist jedoch, dass sie unwirtschaftlichen Anlage von Kapital fördert und die Deformation der Struktur der Beschäftigung bedingt. (Siehe Gothein 1909, 37ff.).
Aachner Stadtverordnete gönnten den städtischen Arbeitern und minderbesoldeten Beamten zum Ausgleich der Preissteigerungen eine Teuerungszulage. Der Redner des Zentrums, Kommerzienrat Bossen, urteilt: "Es sei ein Skandal, dass man solche Beschlüsse fassen müsse; nur durch die Schuld der Agrarier sei man dazu gezwungen." Ihre Schuld ist es, dass die Lebensmittel in Aachen so teuer sind, dass man mit der Summe eine halbe Stunde entfernt in Holland schon ganz gut Leben kann. Diese Misere ist dem Arbeiterwillen aus Graz am 20. Januar 1906 noch einmal Anlass, um festzustellen: Die Politik des Lebensmittewuchers und Volkshungers ist das Werk der klerikalen Parteien. Ausschlaggebend hierfür ist die Zustimmung des Zentrums. Ohne sie, schafften sie es nicht, diese Gesetze zu verabschieden. Das Zentrum unterbreitete den Vorschlag, die Mehreinnahmen für die Reichskasse aus den agrarischen Zöllen, zur Einrichtung einer Arbeiterwitwenpensionskasse zu verwenden. Wie Sentimental, applaudiert am 9. April 1902 Franz Mehring in "Posadowskys Osterfahrt", dass die Regierung einen letzten Tropfen für das Krüglein der Witwe retten soll, während doch ihre abenteuerliche Weltpolitik die Kassen immer leerer fegt.
Bekämpfung
und
Feinden vertraut und glaubt man nicht. Wir haben Feinde, die wir hassen müssen, und Feinde, denen wir einst nahegestanden. Einigen von ihnen, möchte man besser nie in die Hände fallen. Von anderen widerum erhielt man überraschenderweise Hilfe. Uns begegnen Feinde von gestern, heute und morgen. Wir kennen Feinde der Menschheit und des friedlichen Zusammenlebens. Sind die Sozialdemokraten Posa´s Feinde? Natürlich nicht. Das können sie nicht sein, wenn auch mancher so tut, es ideologisch so vorträgt und provoziert. Es sind seine sozialdemokratischen Gegner, die ihm, wenn es darauf ankam, politisch, alles in allem große Achtung entgegenbrachten. [Annäherung an die Sozialdemokratie zurück] Wenn Posa die soziale Frage als Ausdruck der ökonomischen Lebensform der Produzenten, einschließlich ihrer Familien und Unterhaltsbedürftigen begreift, die wachsenden materiellen und kulturellen Bedürfnisse der arbeitenden Klassen anerkennt und in die Gesellschaft einpflegt, heißt dies nichts anderes als, daß er sich der sozialökonomischen Denkweise der Sozialdemokratie annähert. Ihren Forderungen nuss er sich deshalb nicht zwangsläufig anschließen, da noch andere Präferenzen der sozialen Frage zur Disposition und Entscheidung anstehen. So entfalten sich über Gemeinsamkeiten in den sozialen-, arbeitsschutz- und wohnungspolitischen Zielen hinaus, Unterschiede und Gegensätze. Mit historischen Blick für den gesellschaftlichen Fortschritt steht er der Arbeiterbewegung, der christlichen etwas mehr als der sozialdemokratischen, verständnisvoll gegenüber und unterstützt die Befriedigung ihrer Bedürfnisse nach einer sozialen Arbeitswelt, Lohngerechtigkeit, Beseitigung von Hunger und das Recht auf Wohnung. 1906 warnt er seine Kollegen Reichstagsabgeordnete:
Dies prägt seine Innen-, Rechts- und verfassungspolitischen Ambitionen. Im parlamentarischen Alltag nähert er sich öfter August Bebel an, zum Beispiel dessen Gedanken vom Hamburger SPD-Parteitag 1897:
Darin erblickt er ein kluges Bekenntnis zur kapitalistischen Produktion und bürgerlichen Gesellschaft. Zum Zweck der Abschreckung vor sozialistischen Experimente weist er auf die Staatsarbeitsstätten des Louis Blanc (1811-1882) und die Glashütten von Albi hin, die sämtlich wirtschaftlich scheiterten. (Posa RT 13.12.1897, 175) Doch es gab genügend Ärger, eben gerade auch in besagter Parlamentsdebatte. Bei Übernahme des Reichsamt des Innern empfahl er, wie er in seiner Rede darlegt, die Anschaffung der "Hülle`schen Schriften". Dies nahm die sozialdemokratische Presse zum Anlass, um daraus in einer Weise zu zitieren, das seinem Ansehen abträglich war. Vieles in dieser Lektüre - betont er - entspricht nicht seinen Auffassungen. Aber er ist nicht Willens für jeden Passus darin, die Verantwortung zu übernehmen. Er ist verärgert und es fallen dann die Worte: "Gott sei Dank gibt es noch eine große Anzahl Arbeiter, die treue Anhänger der Monarchie sind und die Absicht haben, im Schatten der Kirche zu sterben. (Widerspruch bei den Sozialdemokraten. Beifall rechts)". (Posa 13.1.1897, 175)
Wer Recht erringen will .... zurück An der großen Volksversammlung am 29. November 1911 in Bielefeld spricht der Kandidat für ein Reichstagsmandat der Rechten Graf von Posadowsky. Vor gut 2 500 Bürger erklärt er den Willen und die Bereitschaft, den Kampf mit der Sozialdemokratie auf rechtsstaatlicher Grundlage zu führen. Seine Botschaft zum Kampf mit der Sozialdemokratie lautet:
Aus der Perspektive der klassenmäßigen Selbstverteidigung beurteilt, muss der "Vorwärts" aus Berlin seine Hoffnungen auf "Überwindung" der Sozialdemokratie zerstreuen. Obwohl er ihm ein "gewisses Wohlwollen" zugesteht, macht er geltend, dass in der Politik "nicht das gute Herz einzelner" entscheidet. (Vgl. Halbheiten 1911) Trotz der vielen Jahre - Streit, Kampf und Kooperation - begreifen einige sozialdemokratische Größen die Art seines Herangehens und des Umgangs mit der Opposition nicht. Typisch hierfür Georg Ledebour (1850-1947), der ihn am 17. Februar 1912 (101) im Reichstag vorwirft:
Nicht die Erziehung war sein Metier, die Arbeits- und Lebensverhältnisse der Produzenten will er zum Besseren wandeln. Und er tat es auch - mit Arbeitsschutz- und Sozialgesetzgebung.
Ist die Überwindung der Sozialdemokratie möglich? zurück Ihn grämt, was er uns mehrfach in seinen Reden anvertraut, dass die Sozialdemokraten mit der Revolution spielen und nicht anerkennen, "was der Staat und die bürgerliche Gesellschaft für die arbeitenden Klassen bisher schon getan haben". Am 13. Februar 1897 (173) wirft er ihnen im Reichstag vor:
Im Kampf mit der Sozialdemokratie ragt Posadowsky Rede vom 12. Dezember 1905 (241) vor dem Reichstag heraus. Sie imponiert durch konstruktive, tiefreichende moral- und geschichtsphilosophische Überlegungen. Über allem steht die Frage:
Er antwortet:
Aus dem Materialismus der Lebensweise entspringt die Genusssucht, der Mangel an Opferwilligkeit und die sittliche Verwilderung. Seine Kritik an der materialistischen Grundhaltung des Bürgertums und besitzenden Klassen, erfasst den neuralgischen Punkt ihrer Denk- und Lebensweise, macht das latente, auftreibende und die innere Stabilität der bürgerlichen Gesellschaft bedrohende Werteproblem öffentlich. Es ist eine Warnung an die Oberklasse, ihre Neigung zur unvernünftigen Art und Weise der Bedürfnisbefriedigung zu hinterfragen, um nicht im totalen Werteverlust zu enden.
Die "National-Zeitung" echauffiert sich, er setzt die Schwerpunkte nicht richtig: "Nicht der Bureaukratismus etwa kommt nun auf die Anklagebank, auch nicht Terrorismus, den die organisierten Arbeiter üben, und mit dem sie dem Reformeifer des Staates die werbende Kraft entziehen. Nein, die Besitzenden am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts, sind es, die hindernd im Wege stehen. Weil sie in ihrer Lebensweise ebenso im Materialismus aufgehen, wie die Sozialdemokratie in ihrem Programm dem Materialismus huldigen." (Diäten und Sozialreform) Es bleibt nicht beim Protest. Die Zeitung halluziniert, er stehe der besitzenden Klasse hindernd im Wege. In Wahrheit unterstützte er, getragen von der Überzeugung so den wirtschaftlichen Fortschritt zu dienen, das Kapital bei den Investitionen in Produktion, Handel und Dienstleistungsbereich. Es ist sein Idealismus, wovon Henry Axel Bück (1830-1916) in den Ende 1905 verfassten "Betrachtungen über die sozialpolitischen Vorgänge im ablaufenden Jahr" überzeugt, die ihn zu solchen Aussagen verleiten. Damit verschiebt der Geschäftsführer des Centralverbandes der deutschen Industriellen (CDI) das Problem von den Verhältnissen hin zur Person. So möchte das Posadowsky nicht betrachten. Speziell die Reaktion des CDI, der parteipolitisch eng mit den Freikonservativen und der Nationalliberalen verbunden (Stegmann 1976, 337), lässt als Reaktion auf die Rede vom 12. Dezember 1905 erkennen, dass die Ablösung von Posadowsky vorbereitet wird. Bis zu seiner Entlassung vergehen noch anderthalb Jahre. In Reaktion der Nationalen auf die Rede vom 12. Dezember 1905 wird deutlich, dass sie
Seine Rede zur Debatte über die Werte, dem Widerspruch zwischen der Produktion des Reichtums und Form der Aneignung war ein Paukenschlag. Zeitgenossen wie der Publizist und Abgeordnete Carl Negenborn (1863-1925) setzen sich mit den politischen Theorien von Graf von Posadowsky und ihrer Exegese auseinander und beobachteten, dass er den zunehmenden parlamentarischen Einfluss und die wachsende Popularität der sozialdemokratischen Bewegung darauf zurückführte:
Da sich ein Großteil des deutschen Volkes einer Partei anschließt, die die Grundlagen des Staatslebens verneint, müssen die Ursachen der Krankheit sehr tief liegen (Negenborn 1907, 335). Viele aus der Elite wollten die Kritik an der übersteigerten Reichtumsbildung und dem Materialismus der Lebensweise nicht hören und lieber verdrängen, zumal sie von der Sentenz getragen: ".... Besitz ist keine Tugend, Besitz ist meistens auch kein Verdienst, Besitz ist nur eine sehr angenehme Tatsache." (Posa RT 7.2.1906, 1088) Da leuchtet von weitem sein Vortrag auf dem 20. Evangelisch-Sozialen Kongress 1909 in Heilbronn entgegen, wo er erneut scharf Tendenzen der materiellen Verschwendung und Luxurierung der Bedürfnisse angreift und für eine vernünftige Sozialpolitik wirbt. "Der unangenehme Typus ist der geizige Verschwender, der zu seinem Wohlbefinden Luxus treibt, der Allgemeinheit gegenüber der Mann mit den ewig zugeknöpften Taschen ist." Den brauchen wir nicht, sagt er, sondern den, "der Sparsamkeit im guten Sinne" als Zeichen der Selbstzucht übt. Nach dem Krieg mit den Opfern der Soldaten, Offiziere und Heimat einerseits und den Kriegsgewinnlern, Spekulanten und Preistreibern erklärt er am 7. Oktober 1919 (23) vor der Nationalversammlung, "das für das deutsche Volk bei dem wachsenden materialistischen Größenwahn vor allem Dingen eine sichtliche, eine geistige Erneuerung notwendig" ist.
Eine weitere politische Grundsatzfrage zur Sozialdemokratie, die Posadowsky bewegt, wenn auch nicht in der Rede vom 12. Dezember 1905, dafür in vielen anderen, lautet:
"Die Furcht vor einer sozialdemokratischen Reichstagsmehrheit teile ich nicht: wohl aber fürchte ich," sagt er 1906 im Reichstag, "daß die bürgerlichen Parteien durch das allgemeine Wahlrecht zu sehr genötigt werden, den Wünschen der Masse Rechnung zu tragen." (RT 7.2.1906) Aufschlußreich ist, was er als Mitglied des Reichstages am 12. Dezember 1905 (239) über die sozialdemokratische Gefahr seinen Kollegen erzählt:
Mit der Reichstagsrede
verleiht Posadowsky dem Kampf gegen die Sozialdemokratie einen neuen Impuls. Nachdem er die an ihn gerichteten Fragen systematisch und konkret beantwortet hatte, widmet er sich der parlamentarischen Opposition und fragt:
Sie "die weder im Gegenwartsstaat noch im Zukunftsstaat" "noch in irgendeinem Staate der Welt jemals zu erfüllen sein werden", weil sie den Zusammenbruch des gesamten wirtschaftlichen Lebens und mit ihm des Staates führen würde, lautet der zentrale Vorwurf. Weil die Sozialdemokratie von der Ablösung des kapitalistischen Systems überzeugt sind, "erklärt sie: der ganze bestehende Staat muss beseitigt werden. Wie dieser Zukunftsstaat aussehen würde, davon habe ich wenigstens keinen Begriff. [Sehr gut!] Deshalb muss man es doch begrüßen, wenn eine Arbeiterbewegung besteht und sich weiterentwickelt, die erklärt: ja wir sind auch dafür, dass die materielle Lage der Arbeiter dem wachsenden Wohlstande des gesamten Volkes entsprechend eine besser wird, dass die Löhne der Arbeiter den gestiegenen Lebensbedürfnissen und gestiegenen Lebensmittelpreisen folgen, dass der Arbeiter in größerem Masse als bisher auch an öffentlichen Angelegenheiten beteiligt ist, aber wir wollen dies Ziel mit gesetzlichen Mitteln verfolgen in dem bestehenden monarchischen Staat, innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft." Wohl kritisiert er die SPD wegen ihrer Uneinsichtigkeit, Träumereien und ungenügenden Wertschätzung der sozialen Wohltaten des Staates, doch er verdammt sie nicht und zieht keine Mauer vor ihnen hoch. Dieses unglückselige Werk der Stadtgeschichte zu vollbringen, blieb nach der Revolution 1918/19 den sozialistisch-kommunistischen Trupps vorbehalten. Sie weigerten sich Ähnlichkeiten, Bindeglieder, Berührungspunkte und Gemeinsamkeiten in seinem liberal-konservativ Gesellschaftsmodell zu entdecken, indem sie strikt zwischen den Konservativen und Arbeiterparteien unterschieden und als Gegensatz pflegten. Für den Kampf um die Demokratie taugte d a s, was sie nicht erkannten, n i c h t. In diesem Schema verorteten sie Posadowsky auf der falschen Seite. Was für ein Irrtum! Den im Kampf für die Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Verfassungstreue stand er auf ihrer Seite, gegen die Nationalsozialisten und Deutschnationalen (DNVP). Folglich blieben neue politische Möglichkeiten unentdeckt. Das gibt den Blick auf eine (hier vorweggenommene) stadtgeschichtliche Tragödie frei, die mit der "Machtergreifung von Hitler" umschrieben, aber in ihrem Ausmaß und den Folgen hinsichtich des Bündnisses für Demokratie durch uns bis heute mit Sicherheit nicht voll verstanden ist.
Christliche Arbeiterbewegung zurück Endlich sagt es mal einer, könnte der Parlamentskollege Adolf Stöcker (1835-1909) - als er Posadowsky am 13. Februar 1897 hörte - gedacht haben. Denn ihn stört schon längere Zeit "Das in manchen Kreisen eine üble Stimmung gegen uns herrscht .... " Es ärgert den studierten Theologen aus Halberstadt, den Begründer der antiliberalen, antisozialistischen Christlich-Sozialen Bewegung, und macht ihn etwas fassungslos. Im Mai 1890 gründeten er und Adolf Wagner den Evangelisch-Sozialen Kongress, um die anwachsende Sozialdemokratie zu bekämpfen und die sozialreformerischen Kräfte des Protestantismus gegenüber dem Katholizismus zu bündeln.
Wodurch wird diese üble Stimmung gegen uns jetzt - 1897 - hervorgerufen?, fragt er sich. Er hat da eine Vermutung, die durchaus mit Aussagen von Posadowsky korrespondieren und lautet: "Für die Arbeitgeber fehlt in der Sozialdemokratie jede Anerkennung." Ergo könnte es sein, droht er am 12. Februar 1906 (1212) im Reichstag, dass in Kreisen der Staatsmänner, die Lust zu Reformen vergeht. Hierauf lässt sich der Staatssekretär nicht ein. "Diejenigen die unsere sozialpolitische Gesetzgebung angreifen, weil die Arbeiter dafür doch nicht dankbar wären, erkläre ich (Posa RT 6.2.1906):
Außerdem beurteilt er die Fähigkeiten der Arbeiterbewegung darauf zu reagieren, völlig anders, weshalb er fragt (1906):
Dabei assistiert ihn (am 12. Februar 1906) sofort wieder Stoecker:
"Den Kampf mit Herrn Stoecker und Konsorten", erwidert am 14. Februar (1906) August Bebel im Reichstag, "nehmen wir gerne auf. Er soll sich uns nur stellen ...."
Das Pietätsverhältniß zurück Überall sind mehr und mehr, die Sachzwänge der Industriegesellschaft zu spüren. Nicht allein in der Lohnarbeit. Ebenso drohen Bürokratien den Bürger einzuengen oder gar zu erdrücken. Die Parteien bauen ihre eigenen bürokratischen Apparate auf. Und der Staat kontrolliert, ob der Bürger sich devot verhält. Unternehmer neigen zum autoritär-paternalistischen Verhalten. Das ganze politische und öffentliche Leben prägt die neue Hast, was große Gefahren für die Menschen mit sich bringt. Die politische Maschine arbeitet mit einer Hast, "mit einer Nervosität, die unter Umständen fast bis zur Selbstvernichtung gehen könnte. ( .) - bis zur Aufreibung. Gewiß ...... Die Kräfte die ein Volk zuzusetzen hat, insbesondere die geistigen Kräfte, müssen durch eine gewisse physische und geistige Gesundheit geschützt werden." (Posadowsky RT 22.2.1905, 4699) Posadowsky warnt vor einer Überreglementierung. Und schon wirft man ihn vor, dass er die "sozialpolitische Fürsorge". Das will er nicht, sagt er, sie soll auch in Zukunft fortgesetzt werden. Seitens der Presse wird dies falsch dargestellt.
Auf keinen Fall bedeutet dies die Aufhebung der gesellschaftlichen Klassenstruktur, Nivellierung der ökonomischen Stellung oder Macht im Verhältnis von Unternehmer und Arbeiter. Ebensowenig will er damit Konflikten in der Arbeiterschutz- und Sozialpolitik ausweichen, warum sonst warnt er 1902 vor falschen Kompromissen, wie:
Es insistiert: "Das Verhältniß zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer kann man nicht nur auf den rechtlichen Vertrag stützen, es muß auch ein gewisses Pietätsverhältniß bestehen, (....) ein gewisses
Wohl gedeiht es nach seiner Überzeugung am besten auf dem Boden von Recht und Gesetz, dass durch den Staat definiert, geformt und geschützt wird, doch findet es darin nicht seine Erfüllung. Oder um es mit Gustav Rabruch (67) zu sagen, es liegt im Wesen von Vernunft und Sittlichkeit nicht Ergebnis des Rechtszwangs, sondern Tat der Freiheit zu sein. August Bebel misstraut Posadowsky nicht, glaubt jedoch nicht, dass dies ausreicht, um a) die Arbeitsverhältnisse zu humanisieren und b) die gesetzlich zugesicherten politischen Freiheiten für die Lohnabhängigen zu garantieren. Möglicherweise denkt er dabei an das von Posadowsky unterzeichnete Rundschreiben zur Strafverschärfung des Paragraphen 153 der Gewerbe-Ordnungs-Novelle zurück, als es gelang, dieses am 15. Januar 1898 im "Vorwärts" zu veröffentlichen, worauf in der sozialdemokratischen Öffentlichkeit der Protest aufbrandete. Erfüllte sich etwa darin die Idee vom pietätvollen Verhältnis zwischen Arbeiter und Unternehmer? Andere Ereignisse lassen am pietätvollen Verhältnis zweifeln. Franz Klühs (1877-1938) berichtet 1923 in der unter Proletariern beliebten und verbreiteten "Unterhaltungsbeilage des "Vorwärts"" über den Streik vom April 1906 in der Waggonfabrik Linke & Hoffman in Breslau:
Eingeflochten in den Text ist eine aufwertende Äußerung von Posadowsky über die Streikbrecher. In der Konfusion unkontrollierter repressiver Ereignisse hackt ein Schutzmann mit dem Säbel die Hand eines Arbeiters ab. In der Kombination Posadowsky-Schutzmann-abgehackte Hand, lässt ihn das im schlechten Licht erscheinen und wird ihm die politische Mit-Veranwortung für die Wirren der Breslauer-Ereignisse angelastet. Wie es real um die politischen Freiheiten der Arbeiter steht, führt am 12. Dezember 1900 August Bebel vor dem Reichstag aus:
Das Vaterland und ein Gefühl der Ehre zurück Aus der prächtigen Geschichte der Opferfreude und des Patriotismus eines Theodor von Körner und Ernst Moritz Arndt erwachsen, durchdringt das Vaterland - festgefügt durch deutsche Hände, ein Zeugnis deutschen Fleisses und deutscher Kraft - im Kaiserreich das Leben als politische, kulturelle und philosophische Idee. Egal ob zur Eröffnung einer Ausstellung zur Unfallverhütung oder eines Volkfestes oder zu irgendeinem anderen öffentlichen Anlass, immer heißt es: Gelobt sei das Vaterland! Ebenso konnte das Vaterland auf einen höheren, transzendentalen Ort verweisen, wo Heimatgefühle gelebt und der Klassenkampf nicht auf der Tagesordnung steht, also verdrängt werden konnte. Politiker wie Gustave Hervé (1871-1944) schlagen die Vaterlandsidee aus, weil sie darin ein Konstrukt des Nationalismus erkennen, woraus für sie, die Pflicht zur Vaterlandsverteidigung abzulehnen folgt. Tatsächlich wurde er, um eine planmäßig, blinde Begeisterung zu züchten oder den Hass gegen andere Völker zu mobilisieren, schwer missbraucht. Das Vaterland war nicht nur ein ideologisches oder politisches Phänomen. In der Sozialgesetzgebung findet es ein materielles Fundament. Um den Schäden der Gegenwart zu begegnen, referiert 1909 Graf von Posadowsky im Aufsatz Sparsamkeit und Luxus, konnte weder "das individuelle Wohltun", noch "die Armenpflege der Gemeinden" genügen, sondern es bedurfte hierzu der Sozialgesetzgebung. Ich betrachte es "als den höchsten Ruhmestitel unseres Vaterlandes, daß wir die eigentlichen Pfadpfinder auf dieser neuen Bahn waren ...."
Das Militär soll das Vaterland schützen. Doch wen verteidigt es, fragt August Bebel. Er tut, wirft ihm am 13. Dezember 1897 (171) Posadowsky im Reichstag vor, als ob die Mittel der Landesverteidigung nur den Besitzenden, den Reichen und Kapitalisten zugutekommen. Das gefällt ihm überhaupt nicht. Wohl ist seine Warnung, die indirekten Steuern für die Lohnabhängigen nicht zu stark zu erhöhen, verständlich. Und will ihm hier "durchaus beipflichten". Nicht unterstützen will er dessen Darstellung, als ob die Armee und Marine nur zum Schutz des Besitzes da ist und darauf entgegnet:
Der Arbeiter besitzt ein Vaterland, argumentiert Posadowsky, weil sonst für ihn die allgemeine Wehrpflicht und das allgemeine Wahlrecht aufhörte. Die arbeitende Klasse steht nicht außerhalb unserer Gesellschaft. Deshalb muss sie ebenfalls ein "Interesse an der Sicherheit des Staates" und der "Aufrechterhaltung des Friedens" haben. Andernfalls "wäre aber allerdings die Aufrechterhaltung des allgemeinen direkten Wahlrechts auch nicht mehr berechtigt". August Bebel erkennt die zwiespältige Zielbildung der staatsbürgerlichen Erziehung mit der Tötungsbereitschaft im Krieg und dem Auftrag zur Bewahrung des Lebens im zivilen Leben. E i n e r s e i t s bewegt ihn, dass ein Krieg die Vaterlandsliebe und Einheit des Volkes zerreißen könnte. Dies wurde bereits im Zusammenhang mit seinen Ausführungen zur Burenfrage dargestellt. A n d e r e r s e i t s erweitert August Bebel auf dem SPD-Parteitag 1907 in Essen den Begriff des "Vaterlandes", indem er ihn mit der individuellen Strebsamkeit, Sinngebung des Lebens und den gesellschaftlichen Visionen, Zielen, Idealen, in folgender Weise verknüpft:
Ernst von Heydebrand und der Lasa (1851-1924) will Ehre und Patriotismus mittels des Vaterlandsidee in die Reichspolitik so einbinden, dass sie widerspruchslos, sozusagen axiomatisch, die Grundlage der staatspolitischen Entscheidung bildet. Er wählt hierzu den 9. November 1911, als im Reichstag die Beratung der Marokko- und Kongo-Frage anberaumt ist, speziell die Besprechung des Deutsch-Französischen Abkommens vom 4. November 1911. Der Zeitpunkt ist nicht schlecht gewählt, Prinz August Wilhelm von Preußen (1887-1949) und Reichskanzler Doktor von Bethmann Hollweg sind anwesend. Sein Auftritt pulverisiert alle bisherigen Kritikerprädikate. Ihn erregt, dass "sich ein Botschafter an einem europäischen Hofe, in einer Weise über uns ausgelassen hat und über unsere deutsche Politik, die uns die Schamröte ins Gesicht treiben muss". Wir wissen jetzt, heißt es sinngemäss, wer über unseren Platz an der Sonne gebieten will. ".... das sind wir Deutschen nicht gewöhnt uns gefallen zu lassen ...." Die Reichsregierung muss die Antwort "auf diese englische Frage" geben. Und das Volk weiss, wie diese Antwort zu lauten hat. "Denn es handelt sich," nach Auffasung von Heydebrand, "um seine letzte Existenz." Die Regierenden müssen die Entscheidung treffen und zwar "von dem Gefühl der Ehre der deutschen Nation". Wir die Deutschen müssen auch bereit sein, "Opfer zu bringen". "Was sich gestern im Reichstag abspielte," empört sich die Leipziger Volkszeitung, "war in diesem Parlament noch nicht dagewesen. "Dabei wollte doch der Rittergutsbesitzer aus Klein-Tschunkawe, nur dem "Gefühl der Ehre der deutschen Nation" Respekt und Raum verschaffen. Die Reichsregierung muss sich bei ihren Entscheidungen eben "von diesen Gefühlen" leiten lassen. "Denn da gilt keine Regierung, kein Reichstag, kein Herr und kein Knecht:
Was herauskam war "Kriegshetze im Reichstag", kommentiert die sozialdemokratische Leipziger Volkszeitung. Das war eine "verbrecherische Hetzrede", die "an der Glut eines Weltkrieges ihr Parteisüppchen kochend". Sie wollen den Krieg - das Zentrum, die Junker und Liberalen. "Mit der Erhaltung des Friedens ist ihnen nicht gedient". (LVZ 10.11.1911) Es war längst nicht die einige Stimmme, die laut und deutlich ihren Unwillen kundtat. Erschaudert vom Echo der Deutschkonservativen Partei auf die Marokko-Politik melden sich bekannte Unternehmer und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens am 11. November 1911 in der "Norddeutschen Allgemeinen Zeitung" zu Wort. Albert Ballin, Direktor Hamburg-Amerika Packetfahrt-Actiengesellschaft (HAPAG), Rudolf von Bennigsen, Direktor der Deutschen Kolonialgesellschaft in Südafrika, Kommerzienrat Conrad von Borsig, Miteigentümer der Borsig-Werke, und andere erklären:
Klassengesellschaft, Junkerherrschaft und Staat zurück Ein ehrliches Wort über den Klassenkampf, war gefallen, berichtet am 23. September 1911 die "Salzburger Wacht". Gemeint war damit die Rede von Graf Posadowsky am 15. September 1911 auf der Internationalen Hygiene-Ausstellung in Dresden. Abends zuvor treffen zur Vorbereitung im Roten Saal des städtischen Ausstellungspalastes das Comite permanent international des assurances sociale aus Paris mit dem Deutschen Komitee für internationale Sozialversicherung aus Berlin zusammen. In den Morgenstunden des nächsten Tages konferieren sie im Vortragssaal der Ausstellung. Dabei sind Vertreter des Reichsversicherungsamtes und des Königlich-Sächsischen Ministeriums des Innern. Dann eröffnet der Präsident des Deutschen Komitees Unterstaatssekretär Professor Dr. von Mayer die
Nach einer kurzen Einführung zur Tagesordnung, begrüßte er den Ehrenpräsidenten Seine Exzellenz Herrn Staatssekretär a. D. Graf von Posadowsky-Wehner zur Eröffnungsansprache. Ziel der Konferenz, führte er aus, ist es, Kapital, Unternehmerlust und Arbeitskraft zusammenzuführen, dabei ausgleichend zu wirken und zugleich den Wettbewerb auf dem Weltmarkt gerechter zu gestalten. Eingeflochten in die Erörterung von Fragen der Sozialpolitik, fährt die Rede fort:
Ohne Frage verstärkt diese Sprache beim Gegenüber die Wahrnehmung der Grenzlinien sozialer Klassen und somit die politische Aussagekraft. Viele andere Politiker seiner Herkunft und Naturells bedienen sich vorzugsweise einer deutlich neutraleren Sprechweise, um die Konflikte zu dämpfen oder um ihnen auszuweichen. Da wäre zum Beispiel Gutsbesitzer Graf Hans Wilhelm Alexander von Kanitz-Podangen (1841-1913) von der Deutschkonservativen Partei. Die Frage nach dem "Materialismus des Besitzes" wimmelt er ab und behauptet dreist, die Landwirtschaft sei gar nicht in der Lage sich dem "Materialismus" hinzugeben.
kommentiert die sozialdemokratische Zeitung aus Magdeburg die Sacher erhellend,
Die Dresdner-Rede ist natürlich kein Beitrag zur Klassenverhetzung und kein Zeichen für eine innere Wende zum Marxismus. Ihm ist es eine Herzenssache, die gesellschaftliche Entwicklung in friedliche Bahnen zu lenken. Als obligatorische ethische Erkenntnisperspektive könnte sie in der vorliegenden Form der Gesellschaft helfen, Klassenkämpfe als etwas Notwendiges zu begreifen und kulturell Unvermeidliches anzunehmen. Damit würde sie der nationalsozialistischen Politik vorbauen, die innen- und außenpolitische Verbrechen, Aggressionen und Repressionen gegen den Widerstand der Diktatur mit der Notwendigkeit der Vernichtung der Klassenkampf-Verbrecher rechtfertigte.
Infolge des industriellen Aufschwungs wächst die Klasse der Lohn- und Gehaltsabhängigen zahlenmäßig stark an. Die wohlhabende Klasse, bedauert Posadowsky 1911 in Wohnungsfrage als Kulturproblem, stellt "noch immer einen verschwindend geringen Bruchteil" dar. 1908 konnten in Preußen lediglich vier Prozent der Bevölkerung zur Vermögenssteuer herangezogen werden. Von 38 Millionen deutschen Staatsbürgern beziehen nur 435 000 ein Einkommen von über 3 000 Mark. Ein Irrtum, der leichterdings immer wieder in der Debatte um die Wirkung und Grenzen der Sozialpolitik und -gesetzgebung unterläuft, beschreibt 1977 (147 f.) Hans-Ulrich Wehler. Nach eingehender Analyse der sozialökonomischen Verhältnisse gelangt er zur Schlussfolgerung, dass die Mechanismen der innergesellschaftlichen Verteilung des Volkseinkommens nicht von wohlfahrtsstaatlichen Maßnahmen beeinflusst werden, sondern weiterhin den Gesetzen des Marktes unterliegen, was zu einer "Zementierung der Ungleichheit" führt und die Versöhnung zwischen Proletariat und Staat ausblieb. Steht ein Land vor wirtschaftlichen Problemen oder droht es in die Wirtschaftskrise zu sinken, so steht für Posadowsky zweifellos fest, werden die Folgen dieses Zustandes "zunächst die Bevölkerungsschichten am schwersten treffen, deren Lebenshaltung auf unsicherer schwankender Grundlage beruht, d.h. all diese Kreise´, welche von dem Ertrage ihrer Tagesarbeit leben oder auf ein Einkommen angewiesen sind, welches nur nothdürftig das körperliche Dasein verbürgt." (V&R 74) Klassenlagen bestimmen (mit) über den Zugang des Bürgers zu den materiellen und geistigen Ressourcen der Gesellschaft. So differenzieren sich ihre Lebenschancen nach den Zugang zu Wissen sowie die Verfügung über ökonomische, kulturelle und soziale (Kapital-)Ressourcen aus. Durch die "halbe Leibeigenschaft" der ostelbischen Landarbeiter im System der preußischen Junkerherrschaft, divergieren die Eigentums- und Besitzverhältnisse zwischen den sozialen Klassen und Gruppen stark. Dazu brechen sich in ihnen historisch bedingte und weiterbestehende, erst allmählich abschmelzende Entwicklungsunterschiede zwischen Stadt und Land. Auf dem Land überlappen sich oftmals die alte Feudalordnung mit kapitalistischen Strukturen. "Ich möchte ihnen nur eines sagen", verweist Posadowsky 1905 auf einen Unterschied,
Preußen will nun finanzielle Mittel für die Kolonisation auch in anderen Provinzen des preußischen Staates einsetzen. Großgrundbesitz ist trotzdem nötig, eben für unsere hoch entwickelte Selbstverwaltung (Posa RT 22.02.1905, 4699). Die Landarbeiter und ihre Familien zieht es in die Städte. Von 1895 bis 1900 wanderten, laut Angaben vom Rittergutsbesitzer und Landrat Freiherr von Manteuffel-Krossen (*1844), ungefähr 900 0000 vom platten Land in die Stadt (RT 14.2.1898). Posadowsky wußte um volkswirtschaftlichen Folgen. Er kannte die sozial-ökonomischen Schwierigkeiten in Ostpreußen: "Die Arbeiter gehen fort, weil es ihnen so schwergemacht wird, eigenen Besitz zu erwerben. Kämen sie nicht in der heimischen Industrie unter, so gingen sie nach Amerika." (Posa RT 13.12.1897) Die preußischen Junker beherrschen den Landtag und geniessen die Privilegien des Dreiklassenwahlrechts. Von den Mitgliedern des Preußischen Herrenhauses gehörten zwischen 1854 bis 1918 etwa 66,5 Prozent dem Adel an (Spenkuch 1998). Ihre Mitglieder, Prinzen, erbliche und nichterbliche Mitglieder auf Lebenszeit, ernannte der Preußische König. "Von den in den Jahren 1888 bis 1891 eingestellten Beamten waren 62 Prozent der Oberpräsidenten, 73 Prozent der Regierungspräsidenten und 83 Prozent der Polizeipräsidenten adlig. Die Situation änderte sich den folgenden 20 Jahren nicht." (Röhl 2002, 156) "1909 waren von zwölf preußischen Oberpräsidenten elf adlig, von den 36 Regierungspräsidenten 25 und von den 467 Landräten 271." (Klein 1961, 27) "Vergessen Sie aber das eine nicht", rät 1906 Eduard Bernstein seinen Kollegen im Reichstag, "Preußen nimmt eine Ausnahmestelle im Reiche ein, Preußen ist der führende Staat im Deutschen Reich, das preußische Staatsoberhaupt ist zugleich Deutscher Kaiser; die leitenden Minister Preußens - und der Herr Staatssekretär Graf Posadowsky ist ein Minister Preußens - sind maßgebende Minister im Reiche."(RT 25.5.1906, 3509) Von den 397 Abgeordneten des Reichstages entfallen 236 auf Preußen. Das Land umfasst drei Fünftel der Bevölkerung des Deutschen Reiches. Um die Prärogative zwischen dem Reich, den - wie es damals hieß - "verbündeten Staaten" und Preußen gab es immer wieder Konflikte. Preußen stritt um den Einfluß im Reich und auf das Reich. Ganz unumwunden kommt diese Absicht in dem Antrag von Vertretern des höheren und mittleren Adels in Preußen am 10. Januar 1914 im Preußischen Herrenhaus zum Ausdruck, worin die "königliche Staatsregierung" ersucht wird, im Reich dafür zu wirken, dass der Stellung Preußens, auf die es seiner Geschichte wie seinem Schwergewicht nach Anspruch hat, nicht dadurch Abbruch geschieht, dass eine Verschiebung der staatsrechtlichen Verhältnisse zugunsten der Einzelstaaten Platz greift. (Bernstein 1914, 153) Posadowsky erkennt deutlich das Problem der disproportionalen Vertretung der einzelnen Klassen und Schichten in den Eliten. Obgleich den Folgen gegenüber kritisch eingestellt, bleibt der Eindruck, dass er das Ausmaß der Selbstreproduktion der Eliten aus einer schmalen Oberschicht und ihre Privilegierung und die Folgen für Antipathie und Sympathie, Ablehnung und Ausgrenzung, einmündend in Rivalitäten aller Art, ein wenig unterschätzt, zumal der Abbau der Klassen- und Sozialschichtung durch Bildung nur sehr langsam und zögerlich fortschreitet. Vielleicht resultiert dieses Phänomen aus seiner Auffassung zum Verhältnis von Bürger und B e a m t e n, denen er eine herausragende Rolle beim Werden des Staatsbewußtseins und dem Wohlgefühl des Bürgers im Staat zumisst. Ausgangpunkt, und das verdient Beachtung, weil es ihn von vielen Politikern unterscheidet, sind die Ergebnisse der Reichstags- und Landtagswahlen, die er nach den in ihnen offen und versteckten Botschaften hinterfragt. So war es jedenfalls 1912, als er einschätzt:
Eben dies fand bei den Wahlen gegenüber den bürgerlichen Parteien seinen Ausdruck. Daraus schlussfolgert er: "Mehr denn je ist es notwendig, dass ein "politischer Beamter" "sich sicher vor politischen Missbrauch" hütet. Er soll aber ebenso seinen Einfluss geltend machen, um "über die wirklichen Zustände aufzuklären". Hierbei ist zu beachten, "das Publikum, die Masse des Volkes, beurteilt .... den Wert der Regierung nicht nach den hohen leitenden Stellen, nach den Ministern" und so weiter, "sondern nach den Stellen, die mit ihm in tägliche Berührung kommen " "In einem modernen Staate muss der Beamte
"Der Beamte soll nicht herrschen; er muß sich fernhalten von jeder bureaukratischen Überhebung, ermuß stets das Gefühl haben, daß er das
"Der Beamte hat
auch die Verpflichtung, um auf die öffentliche Meinung einzuwirken,
die Gesetze streng auszulegen nach ihrem Buchstaben und [!] nach ihrem
Geiste." Gegenwärtig zeigen sich diesbezüglich bei der
Umsetzung des Reichsvereinsgesetzes ungute Erscheinungen. Mag er darüber
denken, wie er will. Doch es ist nicht zulässig, das von einzelnen
staatliche Stellen sind "Auslegungen" vorgenommen, oder "beliebt
geworden" wie Posadowsky sagt, "die meines Erachtens mit dem
Geist des Gesetzes und selbst seinem Buchstaben nicht vereinbar sind."
(Posa RT 28.2.1912, 329)
Das im Staat inkorporierte preußische Geschichtsbild des Heinrich von Treitschke (1834-1896) kapriziert sich darauf, dass "königlich preußische Reich deutscher Nation, als das herrliche Ideal hinzustellen, dem alles zuströmt, was in der deutschen Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts gesund und tüchtig, erhaben und groß gewesen ist." Der Historiker geht mit einem Fanatismus vor, "der in aller Geschichtsschreibung vielleicht nicht seinesgleichen hat. Ein Mensch von dem lächerlichen Stumpfsinn des Königs Wilhelm IV. [1795-1861] wird als ein halber Heros gefeiert, während Börne, Heine, Jacoby, Marx, Engels mit schnödester Verachtung historischer Tatsachen heruntergerissen werden." Er hat viel zum
beigetragen." (Ueber Heinrich von Treitschke, 1896) Graf von Posadowsky ist nicht der Hass von Treitschke gegen die Sozialdemokratie eigen, da ihre Rolle und Stellung in der deutschen Geschichte erkennt und würdigt. Ihren Beitrag zum gesellschaftlichen und technischen Fortschritt steht er achtungsvoll gegenüber. In Militärfragen stand er bis 1914 gegen die Sozialdemokraten. Seine politische Haltung zu Heer und Marine verfing sich manchmal in der Ideologie des preußischen Geschichtsbildes, was sich in Aussagen äußert wie: "Der ostdeutsche Grundbesitz .... liefert uns einen ausgezeichneten Offiziers- und Beamtenstand". (Posa 25.4.1912) In Aufsatz die "Schicksalsstunden" (63) vom 17. März 1918 lobt er Preußens Leistung im Großen Krieg. Deutschland führt jetzt vier Jahre Krieg "mit dem größten Teile der Welt". Es hat dem "Massenangriff" nicht nur widerstanden, sondern auch seine "siegreichen Fahnen weit in Feindesland getragen." An diesen "Erfolgen" haben die "vorbildlichen und geschichtlich erprobten militärischen Einrichtungen Preußens einen entscheidenden Anteil". Doch es deuten sich in seinen Betrachtungen auch Veränderungen ins einem Bedenken an. Ziemlich mutig stempelt er im Vortrag am 15. Januar 1919 in der Reichskrone zu Naumburg auf die Welt-, Kolonial- und Nationalitätenpolitik des Kaiserreichs das "Verfallsdatum 1918". Ebenso lässt er Treitschkes "Lehre von den großen Männern" hinter sich. Im Aufsatz "Der starke Mann" streitet er 1920 gegen den Führerkult und führt gegen ihn eine konsequente ideologische Auseinandersetzung.
Gerechtigkeit als Maßstab der Politik zurück 1909 wendet sich "Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft .... " im Heft 3 der Tätigkeit von Graf von Posadowsky als Staatssekretär zu und schreibt: Teils scheinbar, teils wirklich kam er als der starke ostelbisch-agrarische Mann ins Amt, der nach der damals vorherrschend konservativ-agrarischen Meinung der Reichstagsmajorität die Sozialdemokratie zertreten und der Landwirtschaft helfen sollte. "Von Stumm und Genossen mit Beifall begrüßt, schied er als offenkundiger Gegner dieser Richtung und Gönner der christlich-organisierten Arbeiter aus dem Amte." Inzwischen war seine Gerechtigkeit bei den Sozialdemokraten anerkannt. Er wußte, ungerechte Verhältnisse schaffen den ungerechten Menschen. In diesem Sinne heisst es im Sokrates-Polemarchos-Dialog: "Auch das also Freund ist notwendig, dass Menschen, denen man Schaden zufügt, ungerechter werden? - So zeigt es sich." (PLS1928, 335) Deshalb ist Gerechtigkeit ein notwendiger und nützlicher Maßstab der Politik. Das ist für ihn weder trivial noch selbstverständlich, schon gar nicht eine politische Phrase. In der Sozial-, Lohn- und Arbeitsschutzpolitik mit dem multidimensionalen Charakter der Gerechtigkeit konfrontiert, folgt er sowohl dem Grundsatz, die werbende Kraft der Sozialpolitik durch Anpassung und Reformen zu bewahren als auch dem Prinzip der Rechtsgleichheit. Hierbei sind Mass und Mitte gefragt. Die Widersprüche dürfen nicht überborden. Doch darf man ebensowenig der Scheingerechtigkeit verfallen. Eine systemische und operationale Verabsolutierung der Gerechtigkeit, sprich ihre ideologische Hypostasierung lehnt er kategorisch ab. Denn verbleibende Sedimente der Ungerechtigkeit sind in ihrem Nutzen nicht selten höher anzusetzen, als eine absolute Gerechtigkeit. ".... dass der Gerechte überall schlechter daran ist als der Ungerechte", wußte bereits Thrasymachos, da er die Ungerechtigkeiten nicht für sich ausnutzen kann. (PLS1928, 343)
Zum Begriff der Gerechtigkeit Im 1. Buch Platons "Politeia" stellt Thrasymachos zwei Definitionen der Gerechtigkeit vor, die tiefen Einblick in ihren Herrschaftscharakter vermitteln. Die Erste: "Höre denn, sprach er. Ich nämlich behaupte das gerechte sein nichts anders als das dem Stärkeren zuträgliche", worauf Sokrates erwidert: "Das dem Stärkeren Zuträgliche, behauptest du, sei gerecht. Und dieses o Thrasymachos, wie meinst du es?" Leichter Dinge erklärt er es ihm so: "Weisst du etwa nicht, ...., daß einige Staaten tyrannisch regiert werden, andere demokratisch und noch andere aristokratisch? .... Und diese Regierung hat doch Gewalt in jedem Staat. .... Und jegliche Regierung gibt die Gesetze nach dem was ihr zuträglich ist, die Demokratie demokratische, die Tyrannei tyranische und die anderen ....." "Und indem sie sie so geben, zeigen sie also, daß dieses ihnen nützliche das gerechte ist für die Regierten." (Platon Staat 1828, 338, [Abkürzung = PLS1828]) Die zweite Definition lautet: "Und soweit bist du ab mit deinen Gedanken von der Gerechtigkeit und gerechtem, ...., daß du noch nicht weißt, dass die Gerechtigkeit und das Gerechte
Im Kampf gegen die Sophisten, denen Thrasymachos zurechnet, geboren, erklärt Klaus Döhring (1993), dass diese Definitionen nicht miteinander harmonieren, eigentlich unvereinbar sind. Unter Ungerechtigkeit wird nunmehr nicht ein Verstoß gegen ein gültiges Gesetz verstanden, "sondern ein rücksichtsloses Durchsetzen eigener Interessen". Seine Frage, ob man Platon diese Zuordnung zu Thrasymachos im Rahmen der Kampfhandlung gegen die Sophisten glauben kann, ist nicht nötig weiter zu verfolgen, weil es hier lediglich darauf ankommt, dass Begreifen gewisser ungewöhnlicher Seiten der Gerechtigkeit vorzubereiten. Thrasymachos fasst das Gerechte als dem Stärkeren zuträglichen, der bestehenden Regierung genehme, was von Beherrschten die Einhaltung der Gesetze einfordert, und im rücksichtslosen Durchsetzen der Gesetze endet. Das Gerechte entkleidet sich als eine Form der scharfen Unterdrückung. Mit dieser fundamentalen moralischen Frage war 1929 Posadowsky im preußischen Landtag (Posa PLT, 27.2.1929, 4195) im Kontext der Aufwertungspolitik konfrontiert. Er wirft der Regierung vor mit genialer Feinsinnigkeit alles zu tun, "um die Partei der Schuldner zu begünstigen". Indem der Staat sich auf das Gerechte sei nichts anderes als dem Stärkeren zuträgliche stützt, betritt er nach seiner rechtspolitischen Überzeugung die schiefe Ebene der Ungerechtigkeit. Offenbar bedarf es eines anderen moralischen Prinzips. Es findet sich Gespräch zwischen Sokrates und Kephalos (PLS1828, 331), wo es um den Besitz (der Reichen) kreist. Menschen, heißt es, dürfen nicht übervorteilt werden und andere ihnen nichts schuldig bleiben. Sprich, du "Erbe der Rede", sagt Kephalos, was meint der Simonides. "Daß, antwortet er, einem jedem das schuldige zu leisten gerecht ist .". Wiedergegeben aber darf es nicht, wenn es in "unvernünftiger Weise abgefordert" wird. (PLS1828, 331) Die Verletzung des Prinzips "ihnen nichts schuldig bleiben" ruft den Protest und den Kampf gegen die Ungerechtigkeit auf den Plan. Mit den Worten des Sokrates: "Also ist es nicht die Sache eines Gerechten zu schaden o Polemarchos, nicht nur seinem Freunde nicht, sondern auch sonst keinem, sondern seines Gegenteils, des Ungerechten." (PLS1828, 335) Wofür entscheidet sich der Politiker Graf von Posadowsky? Für Thrasymachos Herrenmoral oder die Gerechtigkeit der Anständigkeit", einem jeden das Schuldige zu leisten", und den Kampf gegen das Ungerechte zu führen?
Keine Ungerechtigkeiten in der Sozialpolitik Aus Anlass einer Eingabe zu ernsten Unstimmigkeiten in der Unfallversicherung, wendet sich am 5. Dezember 1888 (1254) Otto Fürst von Bismarck an den Staatssekretär des Innern Karl Heinrich von Boetticher mit dem Auftrag, eine Korrektur an der Gesetzgebung vorzunehmen. Eine "werbende Kraft" wird "unsere Sozialpolitik" nur dann haben, erläutert der Reichskanzler sein Ansinnen, "sobald sich eine Lücke oder eine Ungerechtigkeit in dem bestehenden gesetzlichen Zustand zeigt, in Form einer Novelle sofort Abhilfe geschaffen wird bin allen Fällen, wo sie durch Instruktionen und Verordnungen nicht erreichbar ist." Ungerechtigkeiten in der Sozialpolitik nehmen ihr den Sinn und die positive Wirkung, und müssen, lautet die Quintessenz, beseitigt werden.
Rechtsgleichheit Nahezu allgegenwärtig ist in der sozialpolitischen Sphäre der Streit um die Realisierung des Prinzips der Rechtsgleichheit. Egal ob bei der an sich simplen Forderung bei Arbeitskonflikten, ebenso die Arbeiter über die bestehende Arbeitsordnung zu hören, oder den gewerblichen Arbeitern die rechtlich gesicherte Möglichkeit einzuräumen, sich zur Wahrnehmung ihrer Interessen in Organisationen vereinigen zu dürfen, bis zur Gleichstellung der Arbeiterorganisation gegenüber den Arbeitnehmerorganisationen, entscheidet es über den wirklichen Interessenausgleich, ist es eine Brücke zum sozialen Frieden, also eine soziale Methode der Konfliktlösung.
Steuergerechtigkeit Tut sich hier nicht ein tiefer Widerspruch auf? Er weiß doch um die Kraft der sozialdemokratischen Agitation - pars pro toto ihrer Ideologie überhaupt. Er weiß genau, dass sie primär nicht in den Personen wurzelt, von denen sie ausgeht, sondern, wie es der von ihm formulierte Erste Hauptsatz der Sozialpolitik lehrt, in den Lebensverhältnissen der arbeitenden Bevölkerung ruht. Doch indem er die Finanzierung der schnell wachsenden Kosten für Heer und Marine durch indirekte Steuern Marine akzeptiert und fördert, schafft er das Feld für den Kampf der Sozialdemokraten gegen die wachsenden indirekten Steuern, die die arbeitende Klasse schwer belastet, und dadurch die oppositionelle Kraft der sozialistischen Partei weiter stärkt.
Sachlich, ohne persönliche Anfeindungen, systematisch und vom Standpunkt einer reformorientierten liberal-konservativen Politik gewichtet, streitet Posadowsky am 13. Dezember 1897 mit August Bebel vor dem Reichstag darüber, was bereits in der Debatte um die Vorstellungen von Miquels zur Reichsfinanzreform zum Tragen kam, dass die steigenden indirekten Steuern für die Arbeiter eine hohe Belastung darstellen. Bebel warnt davor, auf die jetzigen Einnahmen, künftige Ausgaben zu setzen. "In letzterer Beziehung," entgegnet Posadowsky (RT 13.12.1897, 171), "kann ich den Herrn Abgeordneten Bebel durchaus beipflichten: Man muss allerdings in der stärkeren Belastung nothwendiger Verbrauchsgegenstände außerordentlich vorsichtig sein. Ich glaube aber, daß die Arbeiterklasse bisher seit der Gründung des Deutschen Reiches, durch unsere indirekte Steuerpolitik nicht gelitten hat, denn es ist unzweifelhaft, daß die Preise für eine ganze Anzahl nothwendiger Lebensbedürfe fortgesetzt gesunken sind (sehr richtig!, rechts), während die Arbeitslöhne in viel grössere Progression gestiegen sind."
Teilen macht Spass! Aber nicht allen. zurück "Deutschland ist seit 25 Jahren ein wesentlich reicheres Land geworden; je mehr unser Reichthum steigt, desto mehr haben meines Erachtens die besitzenden Klassen die Verpflichtung," empfiehlt Posadowsky am 13. Dezember 1897 (173) im Reichstag,
deren Hände Arbeit wir unzweifelhaft unsere industrielle Entwicklung mit verdanken." Es ist allemal ehrbarer moralischer Standpunkt und keineswegs wirkungslos. Die Grenzen des Arrangements liegen im Wesen und der Funktionsweise der gesellschaftlichen Moral begründet, die eine kapitalistische Mechanik desavouiert. "Meine Herren," warnt er am 12. Dezember 1905 (241) im Reichstag die Wirtschaftselite, "ich glaube aber auch ferner, dass mit unserem wachsenden Wohlstand nicht in gleichem Maße die Opferfreudigkeit gestiegen ist, die Großherzigkeit in wirtschaftlichen Dingen, die die besitzende Klasse auszeichnen muss!"
erinnert an die legendären Worte von Adolph Wagner (1835-1917) vom 12. Oktober 1871 in der Garnisonkirche zu Berlin:
Der Reichstagsabgeordnete der Freikonservativen Partei und Gutsbesitzer Karl Freiherr von Gamp-Massaunen (1846-1918) hält den Vorwürfen an die Wohlhabenden und Reichen entgegen: Deutschland hätte sich in den letzten 35 Jahren nicht geradezu phänomenalen Weise entwickelt, "wenn es der deutschen Nation an dem sittlichen Ernste fehlte, wenn der Vorwurf, den der Herr Staatssekretär des Reichsamts des Innern gegen die bürgerliche Gesellschaft erhoben hat, richtig wäre. (Sehr richtig! rechts.) Es ist ausgeschlossen, daß eine Nation, die auf einem niedrigen sittlichen und moralischen Niveau steht, die sich von materialistischen Auffassungen so leiten ließe, wie der Herr Staatssekretär es behauptete, auf allen Gebieten des gewerblichen Lebens so Großes hätte leisten können!" (Gamp 15.12.1905, 372) Immer wieder rügt und ächtet Posadowsky - je nach Anlass und Situation - die mangelnde Opferbereitschaft, den Geiz, das unzureichende Mitgefühl und den Hang der Reichen zur Luxurierung ihres Lebensstils. Seine Kritik an den Nimmersatten, Gierigen und Gefühllosen ruft in der politischen Öffentlichkeit öfter heftige Reaktionen hervor. Gegen seine Vorwürfe wehrt sich zum Beispiel am 25. Dezember 1905 der Geschäftsführer des Centralverbandes der deutschen Industriellen (CDI) Henry Axel Bück (1830-1916) in den Betrachtungen über die sozialpolitischen Vorgänge im ablaufenden Jahr. Andererseits lässt Posadowsky nicht außer Acht, dass die Arbeitgeber ebenso Leistungen zur Realisierung der sozialpolitischen Gesetze erbringen. Seit Bestehen der Sozialgesetzgebung, erklärt er (am 13.12.1897), steuerten die Arbeitgeber eine Milliarde Mark zur Sozialpolitik bei. Täglich werden für diesen Zweck rund eine Millionen Mark ausgegeben. Doch wie es seine Art, er schaut nach links und rechts, nach oben und unten, und sagt dann: "Die besitzenden Klassen haben aber noch mehr gethan; sie haben sich nicht beschwert, so oft ich auch mit Arbeitgebern gesprochen habe (ach! bei den Sozialdemokraten), - nein, meine Herren! - über die materiellen Opfer, die sie zu bringen haben aus Grund der sozialpolitischen Gesetze. Viel drückender sind die persönlichen Arbeitsleistungen, die ganzen öffentlich-rechtlichen Pflichten, welche die besitzenden Klassen im Interesse der Durchführung dieser Gesetzgebung zu leisten haben. (Sehr richtig! bei den Nationalliberalen . " (Posadowsky RT 13.12.1897, 173)
Empathie zurück Arthur Graf von Posadowsky-Wehner trägt die Überzeugung durchs Land, dass Empathie und soziale Pflicht des Christen in der Sozialpolitik zusammenwachsen. "Ich halte die Sozialpolitik", dekretiert 1911 seine Kandidaten-Rede für den Reichstag, "für ein sittliches Gebot, für ein Gebot der christlichen Religion und jedes Religions-Bekenntnisses jedes gebildeten Volkes." Den asozialen, nach materiellen Werten strebenden Menschen lehnt er ab. Menschen ohne Mitgefühl bedrohen und zersetzen den sozialen Charakter der Gesellschaft.
Den Propheten Jesaias, "Ein Jeglicher sieht auf seinen Weg, ein Jeder geizet für sich in seinem Stande", führt er als Inbegriff des lieblosen und unsozialen Menschen vor. "Menschen aber von feinfühligem Gemüt haben Mitgefühl mit ihren Menschen und suchen diese Empfindungen in Wort und Tat zum Ausdruck zu bringen." (V&R 74) Die Haltung der Reichen und Wohlhabenden zur Armut des Arbeiterstandes, verdichtet er 1909 auf dem 20. Evangelisch-Sozialen Kongress in Heilbronn in dem Vorwurf:
"Was würde werden," fragt er am 13. Dezember 1897 den Reichstag, "wenn - was Gott verhüte! - wir einen unglücklichen Krieg führten, Handel und Wandel stockten, die Fabriken still ständen, der heimische Boden nicht mehr so intensiv bearbeitet würde: - wovon sollte dann der Arbeiter leben! Die besitzenden Klasse können viel leichter über halten; die haben etwas zuzusetzen, nicht aber der Arbeiter, der von der Hand in den Mund lebt."
Es war auf einem sozialpolitischen Kongreß, erinnert er sich in seiner Rede am 15. September 1911 Dresden zur Zweiten Internationalen Konferenz für Sozialversicherung, wo er "für eine kräftige Forderung der sozialpolitischen Arbeit eingetreten, doch sei ihm damals entgegnet worden, daß man das
Infolge der heutigen wirtschaftlichen Verhältnisse sei es jedoch dem einzelnen Individuum oft nicht möglich, sich selbst zu helfen, weshalb hier die Staatshilfe und die Sozialversicherung eingreifen müssen." Als 1930 in Deutschland mit den Notverordnungen soziale Leistungen gekürzt werden, warnt er: "Kalte Selbstsucht eines Volkes gegenüber leidenden Schichten seines eigenen Blutes bedeutet eine soziale Gefahr ." Graf von Posadowsky ist also, wie bei vielen Gelegenheiten zu beobachten, ein soziales Empfinden und Verständnis für die Lebenslage der arbeitenden Klassen eigen. Und auf jeden Fall klingt, was vielleicht eher eine Untertreibung, bei ihm eine Kritik an der Elite an, die er in seiner Stellung und mit seinem gesellschaftlichen Veranwortungsbewusstsein natürlich vorsichtig, etwa in dem Aufriss formuliert:
Arbeiterfreundlich zurück August Bebel (RT 22.6.1899, 2648) beklagte: "Je dümmer, je anspruchsloser, je billiger der Arbeiter ist, je mehr er sich den Forderungen des Unternehmers fügt, destomehr ist er das Ideal unserer Staatsmänner." "So wollen Sie den Arbeiter: unterthänig, willig, gefügig, allen Anforderungen seines Unternehmers gehorchend." - Posadowsky war Derartiges fremd. Selbst wenn es in der Bildungs- und Kirchenpolitik manche Differenzen mit der Arbeiterbewegung auszustreiten galt, war dieses Bild vom Arbeiter nicht seine Sache. Das Ansehen der Arbeiter und Arbeiterinnen verlangt er - Original, man horche bitte auf! - muss gehoben und ihr Selbstvertrauen gestärkt werden. "Außerdem muß selbstverständlich die gerechte Behandlung des Arbeiters sowohl seitens der Regierungsorgane wie der bürgerlichen Gesellschaft hinzukommen, um sich das Vertrauen des Arbeiters zu erwerben und zu erhalten." (RT Posa 12.12.1905, 240)
Von christlich-moralischen Werten untermauert und geschichtsphilosophischen Überzeugungen getragen, nimmt Posadowsky zur Gestaltung Arbeiter-Frage eine entschieden positive Haltung ein. Er erkannte, dass die moderne Arbeiterbewegung in engen Zusammenhang mit der großartigen Entwicklung der deutschen Industrie steht (Negenborn 1907, 337). "In keinem Land indes wie in Deutschland," goutiert er im März 1918 (64) in Schicksalsstunden der Arbeiterklasse, "macht sich eine so starke aufsteigende Klassenbewegung geltend." Darauf basiert wiederum die Einsicht, dass die Sozialdemokratie über den sozialen, wirtschaftlichen und institutionellen Fortschritt mitbestimmt. Der sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete Richard Fischer (Berlin) attackiert ihn am 12. Januar 1901 im Reichstag heftig wegen der 12 000 Mark-Affäre. Er warf ihn vor, die Verabschiedung des Invaliden- und Unfallversicherungsgesetz verzögert zu haben, und behauptet: Unsere Zustimmung, also der SPD-Fraktion, zum Gesetz war ein "Mißtrauen gegen die Person des Herrn Staatssekretärs". Solange sein "arbeiterfeindlicher Einfluß im Reichsamt des Inneren maßgebend ist, haben wir keine Hoffnung etwas Besseres zu erwarten". Dann fordert er das Hohe Haus auf, es wolle die "Erforschung der politischen und finanziellen Beziehungen" zwischen dem Reichsamt des Inneren und den Centralverband deutscher Industrieller beschließen. (Fischer RT 12.01.1901, 635) Schlimmer ging es kaum. Er ist tief getroffen. Hinter ihm liegt mit der Zollgesetzgebung eine arbeitsreiche und konfliktreiche Zeit, in der viele Hindernisse zu überwinden waren. Und doch erwidert er auf den Vorwurf von Fischer zur Desavouierung der Sozialgesetzgebung:
Er bleibt, sagt er, solange im Amt, wie er das Vertrauen des Monarchen besitzt und die "körperliche und geistige Widerstandsfähigkeit" ausreicht. Dann folgt die aufschlussreichste Stelle in der Fischer-Kontroverse, die einen Einblick gewährt, was ihm das Bild vom Arbeiter menschlich bedeutet, und fährt in der Rede fort:
In der Öffentlichkeit möchte er also nicht als Jemand gelten, der arbeiterfeindlich sein könnte. Und er war es natürlich auch nicht. Er war ein Mann seiner Klasse, der sich dem Fortschritt, dem sozialen ökonomischen und technischen, verpflichtet fühlte! Das zu verstehen fällt nicht leicht, damals nicht, und heute vielleicht noch mehr.
Gerechte Verhältnisse, geformt und beurteilt mit dem Maßstab des Rechts, realisiert als fairer Lohn und Anspruch auf Wohnung, auch im Fall der Arbeitslosigkeit, bilden die entwickelte moralische Grundorientierungen von Graf von Posadowsky. Und das die Ansprüche der Arbeiter steigen, sagt er, ist gut. Das Streben nach Wohlhabenheit der Arbeiterklasse ist eine wichtige Triebkraft des Fortschritts, was der Staat unterstützen muss. Ebenso notwendig ist die gerechte Behandlung des Arbeiters und Achtung seiner Intelligenz. (Posa RT 12.12.1905, 240) Trotzdem, August Bebel kreidet ihm an: ".... ich hätte ihm [den Herrn Staatssekretär Posadowsky] gern vorgeworfen, er gehe in Versammlungen und zu Festen der Unternehmer. Wir überlassen ihm und seinen Geheimräthen, auf Versammlungen und Feste der Unternehmer zu gehen, soviel ihn beliebt; wir haben ihn und seinen Räthen aber vorgeworfen, dass sie zwar zu solchen Unternehmerzusammenkünften gehen, aber nicht zu Arbeiterversammlungen." (Bebel RT 12.12.1900, 484) Bei einer tieferen Betrachtung seiner Tätigkeit und Verantwortung als Staatssekretär, die durch spezielle Codizes, Verhaltensanforderungen und Funktionen (Aufgaben) definiert ist, löst sich der vom Arbeiterführer beschriebene Widerspruch in Form und Inhalt der institutionalisierten Rollendefinition auf. [Er kennt seine Aufgaben nicht, sagen die Arbeitgeber! zurück] 1905 sollte in Deutschland ein Jahr heftigster Klassenkämpfe werden. Im November 1904 bricht auf der Zeche "Bruchstraße" in Langendreer ein Streik aus, dem sich am 7. Januar 1905 weitere Bergleute anschliessen und der innerhalb zehn Tage bis auf 100 000 Bergleute anwächst. Am 12. Januar tagt eine Konferenz mit vier Gewerkschaften. Von dem gemeinsamen siebenköpfigen Streikausschuss ergeht an den Bergbaulichen Verein ein vierzehn Punkte umfassender Beschwerde- und Forderungskatalog. Die Arbeitgeber geben nicht nach. Hugo Stinnes veranlasste Arbeitszeitverlängerungen und Zechenstilllegungen. Am 16. Januar wird der Generalstreik beschlossen, an dem such über 200 000 beteiligen. Die Folgen des Streiks erreichen den Reichstag. Der Staatssekretär des Inneren, Graf von Posadowsky, nimmt am 1. Februar 1905 zu den Ereignissen Stellung:
Zwei Tage später veröffentlicht die Hauptstelle Deutscher Arbeitgeberverbände ihre Beschwerde über Posadowsky´s Rede und erhebt den schweren Vorwurf,
Dabei hatte er doch mit den folgenden Worten dazu aufgefordert, den Streik zu beenden:
Unbenommen dessen charakterisieren die "Hamburger Nachrichten" vom 7. Februar 1905 seinen Auftritt vor dem Reichstag als einen
Weil er damit das Vertrauen aller bürgerlichen und staatserhaltenen Kreise erschüttert habe, fordert die Zeitung seinen Rücktritt.
Dem Reichstag liegt in der Sitzung am 7. Februar 1905 eine Interpellation vor, die auf einen allgemeinen zehnstündigen Arbeitstag drängt. Dieser steht nicht in Aussicht, sagt Staatssekretär Posadowsky.
Selbstliebe als Lebensprinzip? zurück In den Augen des Sozialisten Heinrich Ströbel (1869-1944) ist der Egoismus als Lebensprinzip ein Stück Übermenschen-Moral, die dem Starken und Machthungrigen, unter Berufung darauf, der Beste zu sein, um sich so gegenüber den anderen durchsetzen und behaupten zu können, a l l e s e r l a u b t. (WB 11.3.1920, 321ff.) Das ist gut beobachtet, weshalb es verwundert, wenn Graf von Posadowsky den Versuch unternimmt, dem Egoismus als Lebensprinzip die Krone aufzusetzen. Es könnte sein, dass er darüber stolpert, weil es quer zu seiner Wertschätzung der Empathie, Opferfreudigkeit und dem Lob auf die Gemeinschaft liegt. Aber wie stellt er sich das vor? Er sagt:
Immanuel Kant (1724-1804) greift 1788 in der "Kritik der praktischen Vernunft" die Frage der Selbstliebe auf und prüft, ob sie den Charakter eines allgemeinen Gesetzes annehmen kann. Das ist nicht vorstellbar, lautet seine Antwort, weil sie von Begierden und von vorrationalen affektiven Einstellungen getrieben. Schenkte man ihr die Würde des Allgemeinen, wie Posadowsky es beabsichtigt, erzeugt sie dennoch keinen harmonischen Effekt, weil es die daraus entspringenden Konkurrenzverhältnisse verhindern, dass sie dem Willen aller entspricht. Nach Kant sind es, und mehr aber nicht, "materiale Grundsätze". Wegen der fehlenden Identität des Grundes und des gemeinsamen Ziels, kann der Egoismus als Selbstliebe, sagt er, kein praktisches Gesetz sein. Weil ihm am allgemeinen Charakter mangelt, kann er nicht harmonisierend wirken und erfüllt somit nicht die Bedingungen eines allgemeinen Gesetzes. Die Idee vom Egoismus als Lebensprinzip überrascht. Denn sie steht nicht in der Logik der von ihn vertretenen Sozialpolitik und reibt sich heftig an anderen ethischen Prinzipien.
Plädoyer für die Zufriedenheit zurück "Meine Herren," wirft Posadowsky 1898 im Reichstag ein, "in der heutigen Generaldebatte ist vielfach der Begriff der Reichsverdrossenheit erwähnt worden; man muß sich fragen, aus welchen psychologischen Ursachen ein solches Gefühl in der Gegenwart bei uns in Deutschland entstehen konnte." (Posa RT 12.12.1898, 34)
"Reichsverdrossenheit", was für ein schlimmes Wort. Das hört der Staatssekretär des Inneren überhaupt nicht gern. Dahinter könnte sich Unzufriedenheit verbergen, was das Staatsbewusstsein herabdrücken könnte. Denn die Stimmung ist ein "Wertmesser seiner Tatkraft und damit die Grundlage des Erfolges" (Posa 4.9.1918). Die nun folgende Rede wird zu einem Plädoyer für die Zufriedenheit:
Unglück, Pflicht und Menschlichkeit zurück Am 10. Juli 1905 ereignet e sich auf der Zeche Vereinigte Borussia in Dortmund ein verheerendes Grubenunglück. Ursache war ein Schachtbrand auf der fünften Sohle, der durch eine explodierende Petroleumlampe ausgelöst wurde. 39 Bergleuten kostet es das Leben. Die Borussia Katastrophe wühlt die Öffentlichkeit auf. Anfang 1906 liegt dem Reichstag die "Interpellation der Mitglieder des Reichstages Albrecht und Genossen betreffend der am 10. Juli 1905 auf der Kohlenzeche Borussia bei Dortmund stattgehabten Unglücksfälle" vor. Nachweislich, argumentieren sie, wurde das Unglück durch Außerachtlassen der allernotwendigsten Arbeitsschutzbestimmungen herbeigeführt. Die Interpellanten wollen wissen, was der Reichskanzler zu tun gedenkt, um solche Grubenunglücke künftig zu vermeiden. Im Auftrag des Reichskanzlers lehnt am 6. Februar 1906 (1035 f.) Vizekanzler Graf von Posadowsky im Reichstag "die Beantwortung der Interpellation" ab, "weil es sich nur um Fragen des preußischen Bergrechts handelt". Das wird im Saal nicht von allen akzeptiert. Zwar ist das Bergrecht eine Angelegenheit vom Land Preußen, nicht aber die Unfallverhütung. Letzteres ist die Aufgabe des Reiches, hält ihnen vier Tage später der Maurer und Reichstagsabgeordnete Theodor Bömelburg (1862-1912) vor. Als Vorsitzender der Vereinigung der Maurer Deutschlands vermisst er eine klare und intensivere Kontrolle des Arbeitsschutzes durch die Gewerbeinspektoren. 1904 forderte das Schlachtfeld der Industrie 8752 Tote und 128 921 Verwundete. Registriert wurden jedoch nur die Unfälle, wo die Berufsgenossenschaften eingreifen mussten. Die Gesamtzahl der Unfälle betrug 446 292. (Stücklen RT 5.2.1906, 1019) Posadowsky (RT 6.2.1906, 1035 f.) erkennt die Kritik von Theodor Bömelburg an und gesteht: "Zunahme ist notwendig". "Die Revision der Fabriken können in der Tat noch nicht in dem Umfange vorgenommen werden, wie es nötig ist." Bömelburg wirft der Regierung vor, "diesen Fall mit dem Mantel der Liebe" zudecken zu wollen. Die Bergbaubehörden schwiegen. Der Staatsanwalt unternahm zunächst nichts. Erst als das Oberbergamt am 28. September (1905) ihm die Akten zusendet, woraus ersichtlich, dass ein Verstoß nach Paragraph 41 der Bergpolizeiordnung vorliegt, eröffnet er am 5. Oktober gegen den Betriebsführer Rüter ein Verfahren wegen fahrlässiger Tötung. Nach Aussage von Bömelburg drängte der Justizminister auf eine schnelle Bearbeitung. Nach der Antwort von Posadowsky im Reichstag auf die Interpellation von "Albrecht und Genossen" folgen eine Reihe weiterer Redner. Dann, nachdem schwerwiegende Kritik geübt wurde, geht er noch einmal an das Pult. Über die Interpellation und Hinweise von Maurer Theodor Bömelburg schwätzt er weder hinweg, noch verleugnet er ihren sachlichen Kern, und sagt:
Im Mitgefühl mit den Opfern der Katastrophe, bewältigt er ihre Folgen, indem er in seinem Verantwortungsbereich Arbeitsschutz- und Sozialgesetzgebung nach Schwächen und Mängeln absucht und augenblicklich die notwendigen Aufgaben terminiert.
Arbeitnehmerfreizügigkeit zurück In der Reichstagssitzung am 13. Dezember 1897 knüpft, wie Graf von Posadowsky sagt, mit Freude an die Rede von August Bebel an, und folgt ihm sogleich auf das "landwirthschaftliche Gebiet". Er begrüßt die Bereitschaft der Sozialdemokraten beim Bau der Kanäle und der Eisenbahn politisch mitzuwirken. "Aber meine Herren, was nützt das alles, was nützen alle Eisenbahnen, was nützen alle Kanäle,
"Schon jetzt sind im Osten die Landwirthe gezwungen, um nicht die einheimische Scholle brach liegen zu lassen, große Massen von Ausländern heranzuziehen. Natürlich ist
und die Arbeiter in ihrer Möglichkeit, Erwerb zu finden zu beschränken." "Es ist in der That, kein erfreulicher Zustand jetzt, der wachsende Zug des Ostens nach dem Westen ...." Bis Juli 1906 landen über 96 000 Bergarbeiter aus den Provinzen Ost- und Westpreußen sowie Posen, davon allein über 42 000 aus Ostpreußen, im Dortmunder Revier an. Auf diese Weise geht ein ansehnliches Kapital verloren, was den Rittmeister a.D. zu Podangen Hans Graf von Kanitz (1841-1913) besonders schmerzt. Jetzt bleiben wir auf den "Kosten der Auferziehung" für die Arbeiter sitzen. ".... und sind die Leute erwachsen, hat man diese großen Kapitalien aufgewendet, dann sind sie für denjenigen verloren, welcher die Auslagen gemacht hat." (Kanitz RT 5. 3.1908, 3641 ff.) Beim Vergleich unterschiedlicher regionaler und nationaler Arbeitslöhne, wusste bereits Karl Marx, dass alle Aufwendungen für die Arbeitskraft , Preis und Umfang der Befriedigung natürlicher, notwendiger und entwickelter Lebensbedürfnisse, die Erziehungskosten der Kinder, "Rolle der Weiber und der Kinderarbeit", ihre Produktivität, ihre extensive und intensive Größe, zu berücksichtigen sind (Kapital I., 583).
Was hat es damit auf sich, wenn behauptet, es sei notwendig, polnische, galizische und russische Arbeiter anzuwerben und zur Arbeit in der Landwirtschaft im Osten heranzuziehen, andernfalls sind die Großgrundbesitzer genötigt, ihre Güter zu jeden Preis zu verkaufen? Sind Landarbeiter Mangelware? Dr. jur. Joseph Herzfeld (1853-1939) erzählt, dass 1905 ein Gutsbesitzer gegen einen Vorschnitter klagte, der auf einem mecklenburgischen Gut arbeitete. Er "kam mit dem Gutsbesitzer in Konflikt, legte die Arbeit nieder, und mit ihm ging die ganze Schar der russischen Schnitter. So war der Gutsbesitzer mit in der Ernte ohne Arbeiter. Aber was geschah? Der Gutsbesitzer hatte zwei, drei Tage später wieder eine genügende Menge Mecklenburger Arbeiter gefunden, und es war nicht die geringste Not an Mecklenburger Arbeitern. ". und das ist das Springende an der Sache-, im Prozess forderte dieser Gutsbesitzer einen Schadensersatz für die Mehrlöhne die er den Mecklenburger Arbeitern zahlen mußte. Also in Mecklenburg sind genug Arbeiter zu haben, aber sie fordern doppelt so hohen Lohn als die Russen, und deshalb importieren die Gutsbesitzer diese auf niedriger Kultur stehende Ausländer.
Schließlich ergeht von Reichstagsabgeordneten aus dem Wahlkreis Mecklenburg-Schwerin die Forderung: Legen sie doch endlich einmal einen "Gesetzesentwurf über den ländlichen Arbeitsvertrag vor". Lassen die dem ländlichen Arbeiter den Schutz des Deutschen Reiches angedeihen! "Schützen sie ihn gegen die Profitgier und das Herrenrecht der Junker". (Herzfeld RT 29.1.1906, 855)
Auch "die Lage des Ostens", fährt Posadowsky am 13. Dezember 1897 in seiner Reichstagsrede fort, "der wiederum gezwungen ist, um die Fabriken nicht stille stehen zu lassen, um die heimische Scholle zu bearbeiten, Ausländer im großen Massen nach Deutschland einzuführen", ist in keiner beneidenwerter Lage. Es ist aber "gar nicht zu denken, daß wir im gesetzgeberischen Wege die einmal bestehende Freizügigkeit beschränken und dem Arbeiter die Gelegenheit nehmen, den Arbeitsmarkt aufzusuchen, den er für den günstigsten hält." Der Landwirtschaft antwortet man auf ihre berechtigten ökonomischen Sorgen und Klagen, ihr müßt den Arbeitern eine solche Lebenshaltung sichern, daß ihr mit der städtischen Industrie zu konkurrieren in der Lage seid. "Das ist ein sehr guter Rath", sagt Posadowsky. Sie muss also in der Lage, solche Löhne zu zahlen. So würden dann die negativen ökonomischen, sozialen und moralischen Folgen der Arbeiternehmerfreizügigkeit begrenzt. Können das die Agrarier angesichts ihrer Rationalisierungs- und betriebswirtschaftlichen Defizite sowie den Auswüchsen der junkerlichen Lebensweise? Erhöhen sich die Arbeitskosten für die landwirtschaftliche Produktion in Ostpreußen, belastet dies weiter die staatliche Subventionswirtschaft, deren Probleme und Verwerfungen sich bis zu den Osthilfeskandalen ziehen, die eng mit Hitlers Machtübernahme verbunden.
Sozialpolitik zwischen Reform und Ökonomie zurück Wird die bürgerliche Gesellschaft mit den phantastischen technischen Fortschritten der industriellen Revolution die Verarmung und Verelendung breiter Schichten der Bevölkerung stoppen und bewältigen? Kann die Sozialpolitik und -gesetzgebung die Einkommensunterschiede zumindest pazifizieren? Oder liegt über ihr, wie Marx sagen würde, der Fluch antagonistischer Klasseninteressen, der Widerspruch von Kapital und Arbeit? Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) misstraut der ökonomischen Leistungskraft der bürgerlichen Gesellschaft. Er glaubte nicht an die Lösung der sozialen Frage. Die Armut wird sie wohl nicht besiegen, vermutet er 1820 im § 245 der Grundlinien der Philosophie des Rechts:
Bewahrheitet sich dies, dann sind im epochalen Raum aus der Klassenstruktur und -bewegung sowie Lebensweise für die Ökonomie der bürgerlichen Gesellschaft, tiefgreifende Folgen zu erwarten, die in der Frage aller Fragen gipfelt, ob ihr geschichtlicher Erfolg vergönnt sein wird. Am 4. Juli 1868 schlägt mit dem Gesetz des Norddeutschen Bundes über die privatrechtliche Stellung der Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften und der Einführung von Fabrikinspektionen, den Änderungen der Gewerbeordnung betreffs der Innungen und dem Haftpflichtgesetz vom 7. Juni 1871 die Stunde der Sozialpolitik. Wenngleich die Anfänge der deutschen Sozialpolitik über zwei Jahrzehnte vor der Übernahme des Reichsschatzamtes durch Posadowksy liegen, so kann man seine Tätigkeit bis 1907 in den historischen Rahmen des Werdens der Sozialgesetzgebung einordnen. Von dieser Warte ist die Größe, das Wagnis, der Ernst und die Tragweite, des historischen Projekts Sozialpolitik gut zu erkennen.
Sozialpolitik verstand Posadowsky nicht als Praxis soziale Geschenke an eine geschundene arbeitende Klasse. Vielmehr lotete er ihre Möglichkeiten und Grenzen im Feld von Humanität, Rationalität und Ökonomie aus. Das war ein konfliktreicher und anstrengender, von vielen Klein- und Detailarbeiten bestimmter Prozeß, den er auf den verschiedensten Organisationsebenen als Staatssekretär engagiert führte. Dabei wendet er sich den sozial-ökonomischen Bedürfnissen der einzelnen Klassen, Schichten und Gruppen, den Interessen der Landwirtschafts- und Industrieverbände und Organisationen zu. Nichts weist auf eine moralische Abwertung der arbeitenden Klassen und Unterschichten hin. Unvoreingenommen und mit hoher sozialer Sensibilität, geleitet von christlichen Werten, analysiert er, ohne sie zu kaschieren oder zu entstellen, die soziale Frage.
Befeuert von der um 1860 in Deutschland verspätet einsetzenden und schnell fortschreitenden industriellen Revolution, entsteht eine neue Klassenstruktur der bürgerlichen Gesellschaft, die von einem historischen Wertewandel begleitet und sich in den sozialen Klassen und Schichten gut sichtbar im Streit um die soziale Frage artikuliert. In ungezählten politischen Aufsätzen und Berichten, verfasst von Politikern, Journalisten, Arbeitern und Akademikern, löste sie sich öfters in Geschwätz auf. Karl Marx griff dies am 1. Februar 1849 in der Neuen Rheinischen Zeitung mit einer sarkastischen Replik auf. Es kann keine Rede davon sein, stellte er fest, daß "d i e soziale Frage" eine "unendlich wichtige" ist. Vielmehr besitzt "jede Klasse ihre e i g e n e". Mit "dieser sozialen Frage einer bestimmten Klasse" ist dann "auch zugleich eine bestimmte politische Frage für diese Klasse gegeben." Auch da - was vielleicht überrascht? - geht Posadowsky mit! Der wesentliche Unterschied zwischen ihnen liegt woanders. Während Posadowsky den sozialen Ausgleich anstrebt und massvolle soziale Unterschiede toleriert, wenn sie den Besitzlosen und Werktätigen zum Vorteil gereichen, sucht Marx nach den tiefen Ursachen der ökonomischen Ungleichheit, und will sie, als gesellschaftliches Problem, wenn nötig auf dem Weg der Revolution, ein für alle Mal aufheben. Dies ist die kleine Differenz zwischen konservativer und sozialistischer Denkweise. Aber sie ist nicht unüberwindbar. Trotzdem können beide ihr politisches Arrangement zur sozialen Frage als Klassenfrage treffen. Ein Posadowsky lässt es an Bemühungen nicht missen und verbirgt sich gegenüber den Linken nicht hinter Mauern. Es hier wenigstens anzudeuten ist wichtig, weil es sich nach der deutschen Revolution von 1918/19 zu einem großen, unüberwindlichen politischen Problem aufbaut.
Die Sozialpolitik konstituiert sich aus dem Widerspruch, die Produktivkraft Arbeit als unerschöpfliche Quelle des Fortschritts zu erhalten und zu fördern, und den dafür immer nur begrenzt zur Verfügung stehenden ökonomischen Ressourcen. Ihre merkantile Ausgestaltung greift tief in das System der nationalen Lohnverhältnisse sowie der Renten- und Krankenbeiträge ein. Damit unterliegt die Sozialgesetzgebung zwangsläufig dem Kampf der Interessen der sozialen Klassen, Gruppen und der im Reichstag konkurrierenden Parteien, dem Einfluss der Unternehmer nebst ihren Organisationen und den Gewerkschaften.
Graf von Posadowsky entwirft aus konservativer Sicht das politische Bild vom emanzipierten Arbeiter, der selbstbewußt im Klassenkampf um die Verbesserung seiner wirtschaftlichen Lage ringt (Zum Beispiel Rede am 15. September 1911 auf der Zweiten Internationalen Konferenz für Sozialversicherung in Dresden). Im Reichstag erklärt er 1906:
In den Streiks konkurriert das Streben nach dem Prinzip des sozialpolitischen Absolutismus mit dem sozialpolitischen Konstitutionalismus. Eugen Katz (1881-1937) erklärt, nachdem im November 1904 in Bochum auf der Zeche Bruchstraße von Hugo Stinnes der große Streik der Bergarbeiter begann, dem sich zwei Monate später 50 000 Arbeiter anschliessen, was damit gemeint ist:
fragt er am 29. Januar 1905 und antwortet: Es kommt nicht auf eine bloße papierne Befugnis an. Was sollte die nützen, wenn die Unternehmer diese durch ihre Machtentfaltung hintertreiben und versuchen die Arbeiterorganisationen auszuschalten? Die wichtigste Frage der gesamten Sozialpolitik heißt deshalb,
gestellt werden? Im Spannungsfeld von notwendigen Reformen und ökonomischen Möglichkeiten reproduziert sich die soziale Frage stets von Neuem, wirft in den unterschiedlichsten Politikfeldern immer wieder Konflikte auf.
Zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit fasst der 4. Bundeskongress der Gewerkschaften Deutschlands am 20. Juni 1902 folgende Beschlüsse: 1. Der Staat hat die Pflicht Arbeitslose zu unterstützen, welche weder durch Streiks oder grobes eigenes Verschulden in diese Lage kamen. 2. Voraussetzung für die allgemeine Arbeitslosenversicherung ist das uneingeschränkte Koalitionsrecht aller Arbeiter beiderlei Geschlechts in Gewerbe, Hausindustrie, Schifffahrt, Landwirtschaft, Staatsbetrieben und häuslichen Diensten. 3. Das System der Arbeitslosenversicherung soll auf der freien Selbstverwaltung der Arbeiter gründen und durch Gewährung eines Reichszuschusses finanziert werden. Oft wird die deutsche Sozialpolitik vor dem Ersten Weltkrieg mit ihren Aufgaben für die Systemstabilisierung als Reaktion auf den wachsenden Einfluss der Sozialdemokratie und im Dienst der Domestizierung der Arbeiterklasse interpretiert. Andere begreifen sie vor allem als Pflegeleistung zur Produktivitätssteigerung der Arbeit. Posadowsky-Wehner überschreitet deutlich den Horizont sowohl einer populistisch wie ökonomistisch fundierten Sozialpolitik. Für ihn ist sie eine universelle kulturelle Aufgabe, ohne die kein gesellschaftliche und wirtschaftlicher Fortschritt gedeihen kann (V&R 126ff.). Damit geht er weit über seine Vorstellungen der Posener-Zeit hinaus, die Pflicht zur sozialen Fürsorge vor allem aus dem Gebot der christlichen
Einerseits widersprach er ".... auf das heftigste, wenn der Centralverband deutscher Industrieller Forderungen, die der Gesundheit und körperlichen Unversehrtheit am Arbeitsplatz galten, als sozialdemokratisches Anliegen zurückwies." (Bahlcke 96) Andererseits darf
die Sozialpolitik nicht die wirtschaftlichen Gesetze (Grenzen) überschreiten
und verletzen, weil sonst riesige volkswirtschaftliche Schäden zu
gegenwärtigen sind (V&R 213). Das
Bestreben um einen größeren Anteil der Arbeiter am Gewinn des
Unternehmens, betrachtet Posadowsky (RT 12.12.1905, 240) als "an
sich verständlich und auch berechtigt." Gleichwohl darf die
Produktion dadurch nicht in einer Weise verteuert werden, dass diese nicht
konkurrenz- und lebensunfähig oder Unfähig zur erweiterten Reproduktion
wird. "Wenn
der Unternehmer nicht mehr die Aussicht hat, sein Kapital wirklich gewinnbringend
anzulegen, wird eben die Unternehmungslust überhaupt zurückgehen
" "Werden also die Forderungen an die Löhne überschraubt,
wird die Ware zu teuer, das Geschäft zu riskant, so leidet unter
den fortwährenden Streiks zunächst die Unternehmerlust des deutschen
Unternehmerstandes, dann trägt aber in zweiter Reihe den Rückschlag
der Arbeiter, weil sich die Arbeitsgelegenheit entsprechend vermindert."
"Nach der Jahrhundertwende verstärkten sich die Bestrebungen von Handwerksmeistern nach Erweiterung der Versicherungspflicht der Rentenversicherung auf die selbstständigen Handwerker. Verschiedene Innungs- und Handwerkertage fassten entsprechende Beschlüsse, die im Reichstag vor allem von den Konservativen und den Nationalliberalen unterstützt, von Zentrum und Freisinn dagegen abgelehnt wurden." (Ayaß 2021, 125)
Werden mit dem enormen wirtschaftlichen Aufschwung und der Beschleunigung des wissenschaftlich und technischen Fortschritts die ökonomischen Grenzen der Sozialpolitik aufgehoben? Sollen alle schwächeren Volkskreise Anspruch auf die Hilfe des Staates haben. Den Anstoss zu dieser Debatte im Reichstag gab am 14. Januar 1904 der Arzt Dr. med. Jacob Becker (1864-1949) aus Sprendligen im Kreis Offenbach mit seiner ergänzenden Rede zu seiner Interpellation. Die soziale Lage des Mittelstandes ist dramatisch. ".... zu den wirtschaftlichen Schwachen rechnen gegenwärtig nicht allein die Arbeiter, sondern Teile des Mittelstandes. Am schwersten Betroffen scheint der deutsche Handwerkerstand. Er ist "ganz außerordentlich schlecht gestellt"". "Es ist deshalb notwendig, dass hier Fürsorge getragen wird." Andernfalls gleiten sie hinab in das Proletariat. Der Arzt aus Sprendlingen berichtet dann, dass der Handwerkerstand nicht in der Lage ist einen Spargroschen für Alter, Krankheit und Invalidität, zur Seite zu legen. Von den 1 400 000 Handwerkern in Deutschland erzielen höchstens fünf Prozent ein Einkommen von 4 000 Reichsmark im Jahr und Zweidrittel lediglich ein Einkommen bis 2000 Mark im Jahr. Ihr Wunsch geht dahin, dass sie der Versicherungspflicht unterworfen werden. Zunächst kam in ihren Kreisen die Idee der Gründung einer Pensionskasse auf. Dann sondierten sie bei verschiedenen Privatversicherungen. Beides stellte sich als völlig unmöglich heraus. Und doch ist eine Alters- und Invalidenversicherung notwendig. Im jetzigen Versicherungsgesetz ist die Möglichkeit der freiwilligen Versicherung, unter der Voraussetzung, dass das vierzigste Lebensjahr noch nicht überschritten ist, gegeben. Und es dürfen in der Werkstatt regelmäßig nicht mehr als zwei Gesellen beschäftigt werden. Die Handwerker benötigen das Geld für die Anschaffung der Werkzeuge und Ausstattung der Werkstatt, weshalb sie von einer freiwilligen Versicherung meistens keinen Gebrauch machen können. Gemäß dem Beschluss des Mainzer Gewerbevereinstag richtet Doktor Jacob Becker (RT 14.1.1904, 264 ff.) an den Herrn Reichskanzler die Bitte, die Invalidenversicherung auf alle selbständigen Handwerker auszudehnen.
"Ja, der Herr Abgeordnete ist sogar so weit gegangen, zu erklären, daß, wenn wir das nicht täten, darin eine nationale Gefahr läge. Er mag mir es nicht übelnehmen:", nähert sich ihm Posadowsky vorsichtig (RT 14.01.1904, 267), "ich stehe auf dem Standpunkt, daß, wenn wir den Grundsatz annehmen, den er hier von der Tribüne des Reichstags erklärt hat, ich darin eine nationale Gefahr für Reich und Staat sehen würde. (Sehr richtig!)" " . Ich halte, wie gesagt, soweit es sich um unselbständige wirtschaftliche Existenzen handelt, jene Auffassung für eine unrichtige; aber ich bin doch der Ansicht, man kann auch zum Schaden unseres Volkes das Versicherungsprinzip übertreiben, ja, man kann das Versicherungsprinzip,
um einem jeden seine Zukunft zu sichern, so übertreiben, daß schließlich die eigene Kraft, für sich selbst zu sorgen, selbst seine Zukunft zu sichern, vollkommen gelähmt wird, und das kann sehr bedenkliche psychologische Wirkungen auf den Charakter eines ganzen Volkes haben." (Posa RT 14.01.1904, 269) In der Interpretation zeigen sich konservative Ansichten zum staatlichen Versicherungsprinzip. Nicht ohne Grund greift diese Passage der Rede das Mitglied der Deutschen Konservativen Partei Hans Wilhelm Alexander von Kanitz (1841-1913) aus Podangen zwei Jahre später auf und formt die Aussage zu um, dass man meinen muss, dass es bedenklich wäre, "wenn alle darauf rechnen könnten, einmal als Staatsrentner zu enden." (Kanitz RT 5.2.1906, 1002) Die Wiedergabe ist nicht falsch, doch geschickt so angelegt, dass man glauben könnte, Posadowsky hätte grundsätzliche Vorbehalte gegen eine staatliche Altersabsicherung der Werktätigen. Und genau das trifft nicht zu. In seiner Antwort an den Interpellanten beschönigt er die wirtschaftlichen Verhältnisse des Handwerks, indem er darauf verweist, dass es "noch zahlreiche Handwerker" gibt, "für welche der Grundsatz gilt, dass das Handwerk einen goldenen Boden hat". "Na, na" schallt es aus dem Saal. Posadowsky fragt ihn noch:
Zur Beurteilung der sozialökonomischen Effektivität der Sozialpolitik werden heutzutage in Vorbereitung politischer Entscheidungen umfangreiche Statistiken ausgewertet und die Maßnahmen mit Hilfe mathematischer Modelle und soziologischen Analysen geplant. Mittlerweile sind die Grenzen und Gefahren der instrumentellen Vernunft längst hinreichend bekannt. Niemand erwartet durch die Mathematisierung die Lösung aller Probleme. Deshalb die humanistische Rationalität als kognitive Methode der Sozialpolitik zu eliminieren, wäre ein großer Fehler. Entscheidend für eine befriedigende sozialökonomische Effektivität der Sozialgesetzgebung und -ausgaben ist eine realistische Analyse und Lagebeurteilung, die Auswahl und der Einsatz der Mittel, und ein klares politisches Ziel oder wie Graf von Posadowsky formuliert:
In der rechtspolitisch
anspruchsvollen Debatte um die "Interpellation der Mitglieder
des Reichstages Albrecht und Genossen betreffend der am 10. Juli
1905 auf der Kohlenzeche Borussia bei Dortmund stattgehabten Unglücksfalle"
unterbreitet Posadowsky den Vorschlag, größere Armenverbände
zu gründen. "Es ist ein offenes Geheimnis," instruiert
er am 6. Februar 1906 den Reichstag, "daß heutzutage an
vielen Orten geradezu das System herrscht, daß einem Mann, der sich
annährend schon zwei Jahre in dem Orte aufgehalten hat, also daran
ist, den Unterstützungswohnsitz zu erwerben, zur Abwanderung zwingt,
indem man dafür sorgt, daß er keine Wohnung bekommt oder keine
Arbeit oder dergleichen. (Hört! Hört! und sehr richtig! Links)."
Das System der schimpflichen Abschiebungen muss dringend beendet
werden, lautet seine Forderung, wozu es notwendig, größere
Armenverbände zu bilden. (Vorwärts 7.2.1906) Das bedeutet
die Einrichtung öffentlich-rechtlicher
Körperschaften, die die Armenpflege sowohl in Ortsarmen- wie Landarmenverbänden
übernehmen.
Widerstand gegen die Sozialpolitik zurück Scharfe Kritik am Sozialpolitiker Posadowsky übt am 24. Juni 1906 die Nummer 25 der Deutsche(n) Arbeitgeber-Zeitung. Ihrer Ansicht nach trägt sie "in erster Linie" die Verantwortung
Besonders schwer wiegt, daß "das Korrektiv in Gestalt einer gesetzgeberischen Repression der Sozialdemokratie unterlassen wurde".
Die Arbeitgeber drücken ihre tiefe Unzufriedenheit über seine Amtsführung aus, welche in keineswegs erfreulicher Weise die "sozialpolitische Auffassung der leitenden Kreise während des letzten Jahrzehntes" aufnehmen. Jetzt ist es soweit, könnte man denken, dass sie die Forderung nach dem Rücktritt erheben. Doch davor scheuen sie in der Öffentlichkeit zurück und teilen über die Deutsche Arbeitgeber-Zeitung mit:
"Und zwar", man findet aus dem Staunen nicht mehr heraus, "vor allem aus Gründen der Gerechtigkeit", wozu sie eine Erklärung nicht schuldig bleiben:
Sein Motiv für die Sozial- und Arbeiterschutzpolitik schöpft aus der Menschlichkeit, der "sittliche(n) Pflicht eines geordneten Staates", "für die armen und schwachen Volkskreise zu sorgen" (RT 12.15.1905, 358) und der Erkenntnis des Ersten Hauptsatz Sozialpolitik. Was seine Widersacher und Antagonisten treiben, hält er ihnen 1909 auf dem Evangelisch-Sozialen Kongress in Heilbronn vor, dass ist humanitär nicht vertretbar, denn sie stehen zu "den Grundlagen nicht nur des Christentums, sondern mit der Sittenlehre aller gebildeten Völker in Widerspruch." Weder im Reichstag noch in den verschiedenen Strömungen der bürgerlichen Parteien und politischen Öffentlichkeit besteht in Deutschland Einigkeit über die Fortführung der Sozialpolitik. Typisch hierfür ist die Position von Graf Hans von Kanitz (1841-1913) aus Podangen, Vertreter der Deutsch-konservativen Partei. In der Reichstagsdebatte vom 23. bis 26. Januar 1896 über die Unfall-Novelle äußert er den Wunsch, "die ganze Arbeiterversicherungsgesetzgebung aus der Welt zu schaffen und das Liquidationsverfahren darüber einzuleiten". Mittlerweile eröffneten die Gegner der modernen Sozialgesetzgebung im Reichstag, in Vereinen und der Presse, in den Institutionen der Kirche sowie periodisch erscheinenden Publikationen, ihre Kampfplätze. Zum Teil haben sie den Charakter einer Gegenbewegung zur Sozialgesetzgebung der Regierung angenommen. Dabei begegnen Posadowsky immer wieder folgende vier typische Einwände und Angriffe: [Staatskrippe zurück] Die Sozialpolitik ist ein "Abonnement auf die große Staatskrippe", die zur Faulheit erzieht, trägt am 2. Juni 1905 Hans-Hennig von Burgdorff (1866-1917) im Preußischen Herrenhaus vor. Ähnlich denkt Wilhelm von Kardorff (1828-1907). Von einer weiteren Ausdehnung der Sozialgesetzgebung befürchtet er, daß sie die Energie der Arbeiter im Kampf um das Dasein lähmt. Der Landrat a. D., Mitglied des Reichstags seit 1868, argumentiert mit Posadowsky gegen Posadowsky: "Ich bin bezüglich der Ausdehnung unserer sozialen Gesetzgebung auf weitere Volkskreise doch der Meinung, der der Graf hier einmal sehr beredten Ausdruck gegeben hat, indem er ausführte, man solle sich doch die Frage vorlegen, ob es nicht bedenklich wäre, und ob nicht unser ganzes Volk eine Einbuße an seiner notwendigen Energie erleiden würde, .., wenn alle darauf rechnen könnten, einmal als Staatsrentner zu enden." Fazit: "Ehe wir daran denken, die soziale Gesetzgebung weiter auszudehnen, sollten wir uns vielmehr einmal jetzt mit einer Revision derselben beschäftigen und die Mängel zu erkennen suchen, die offenbar in sehr vielen Punkten unserer sozialen Gesetzgebung hervorgetreten sind." (Kardorff 6.2.1906, 1002) Als Beispiel nennt er die Zuerkennung einer Invalidenrente bei einer Einschränkung der Erwerbsfähigkeit von 20 Prozent. Die hat seines Wissens nach "zu großen Bedenken auf dem platten Land" geführt. [Aggravation und Simulation zurück] Eine typische Kritik an der Sozialpolitik popularisiert die Schrift "Unerwünschte Folgen der deutschen Sozialpolitik" von 1912 (61, 62, 64), präsentiert vom bekannten Nationalökonom und Staatswissenschaftler Professor Ludwig Bernhard (1875-1935), unter anderen ab 1904 als Professor an der Akademie in Posen tätig, später in Berlin und Kiel. "Unfallkrankenhäuser" bezeichnet er als Hochschulen der Simulation. Staatliches reglementieren bedingt, nach seiner Anschuungsweise, private Unselbständigkeit. Er appliziert die Begriffe nervöse Rentenerkrankung und Unfallgesetzneurose. Simulation der Leistungsschwäche und Aggravation der Krankheitssymptome sind die Folge einer überambitionierten Sozialpolitik. [Überforderung zurück] Ein anderer, verbreiteter und wiederkehrender Einwand gegen die Sozialpolitik lautet, dass sie den Staatshaushalt überfordert und an seinem misslichen Zustand Schuld ist. Damit konfrontiert, informiert Posadowsky 1909 in seiner Rede vor dem evangelischen Kongress in Heilbronn über die Ausgaben des Reichsversicherungsamtes und den Zuschuss des Reiches für die Invalidenrente. Die Kosten betragen laut Voranschlag für das Jahr 1910, bei einem Reichsetat der bei 2.856 Millionen Mark abschließt, rund 53 ¼ Millionen Mark.
Querelen um die lähmende und krankmachende Wirkung der Sozialpolitik treten historisch gesehen öfters in Kombination mit schikanösen staatlichen Maßnahmen gegen die Besitzlosen, Lohn- und Gehaltsabhängigen, Arbeitslosen, Alleinstehenden und Menschen mit ernsten Leistungshandicaps auf. Große Bereiche der Großindustrie dachten nach 1923 überhaupt nicht daran, sich dafür einzusetzen, erhöhte Steuereinnahmen des Staates zur Kompensation von Ungerechtigkeiten der Hyperinflation einzusetzen. Weil die Sozialpolitik "die quantitative und qualitative Überspannung sozialer Fürsorge bei uns die Selbstverantwortung tötet", sieht der Großindustrielle und Wirtschaftsführer Doktor Paul Silverberg (1876-1959) dafür überhaupt keine Notwendigkeit. Auf der Tagung des Reichsverbandes der Deutschen Industrie (RDI) am 4. September 1926 in Dresden bringt er als Präsidiumsmitglied dessen Anschauungsweise, Ideologie und Wertvorstellung klar zum Ausdruck. Eine viel beachtete Rede, nichtzuletzt weil er empfahl die Arbeiterpartei in die Regierung eintreten zu lassen. Immerhin stieß dies auf Widerspruch, berichtet der SPD-Reichstagsabgeordnete Gustav Hoch (RT 27.2.1927, 9248). [Bevormundung zurück] Die Gegner der Sozialpolitik und ihrer Fortschritte bemühen öfter das Argument der Bevormundung. Graf von Posadowsky betreibt eine "peinlich ausgearbeitete Sozialpolitik der Bevormundung", wirft ihn "Die Hilfe, Zeitschrift für Politik, Wirtschaft und geistige Bewegung", worauf er am 11. April 1907 (685) im Reichstag erwidert:
Die Antwort atmet etwas von der Geduld, die ihm derartige Anwürfe abverlangen, denn eine bevormundende oder gar polizeistaatliche Sozialpolitik, kommt ihm, dem die daraus erwachsenen Probleme voll bewusst, nie in den Sinn. Er will nicht alle Erwerbszweige polizeilich reglementieren, "um schließlich einen sozialistischen Polizeistaat herbeizuführen, in dem sich die Arbeiter nicht wohler befinden dürften als bisher, in dem aber die besitzenden Klassen sich zu bewussten Gegnern des Staats herausbilden würden." (Posa RT 13.12.1897) [Deutsche Sozialpolitik nach Art von Georg Schiele zurück] Die gegenwärtige Sozialpolitik ist volksverderbend. Sie verhätschelt die Massen. Sie schwächt die Unternehmerkraft durch Abgaben. Diesen in bestimmten Kreisen vorhandenen Widerwillen gegenüber der modernen Sozialgesetzgebung baut Georg Wilhelm Schiele 1913 im Aufsatz "Von einer neuen und anderen Sozialpolitik" zum Konzept der "deutschen Sozialpolitik" aus. 1926 erhebt er sie im Heft 9 der "Naumburger Briefe" zu einem konstitutiven Element des Völkischen Staates. Männer wie Gaius Julius Cäsar (100 - 44 v.u.Z) und Augustus (63-14 n.u.Z.) erkannten, bemerkt der Pionier der "Sozialpolitik deutschen Geistes" aphoristisch, die volksverderbende Wirkung der öffentlichen Brotverteilung, was den heutigen Sozialpolitikern abgeht. Die neue "Sozialpolitik deutschen Geistes", gegründet "auf den altgermanischen Geist der Freiheit des einzelnen ", versteht sich, als Gegenstück zur "römischen Sozialpolitik" (311, 308/309). Sie will die Unabhängigkeit und das Vertrauen in die eigene Kraft und Eigenständigkeit stärken. "Worin steckt das Gefährliche unserer Sozialversicherung?" (1913, 305), fragt Georg Schiele. Seine Antwort lautet:
Indes ist, lautet ein moralisches Axiom der Sozialpolitik von Schiele, mit unverhältnismäßigen Opfern wenig zu erreichen. Denn die Lage ist doch so: Einige Volksklassen leben auf Kosten anderer. Einige Mittelstandsexistenzen sind ruiniert. Einige Großhändler sind reich geworden. Den Bedürftigen jedoch hat das alles nicht viel geholfen. Jawohl, der produktive Stand ist geschädigt. "Die Zeit des Reicherwerdens" ist vorbei, heran zieht "Not und Härte". Das Wohlleben der Vielzuvielen ist zu Ende. "Machen wir uns klar," diktiert 1926 der Völkische Staat (8), "daß alle zukünftige Sozialpolitik von anderer Natur sein muß als die bisherige. Wir sind zu arm, um wirklich materielle Wohltaten zu bieten. Wir dürfen noch viel weniger uns mit den Materialisten auf einen Wettlauf in materiellen Versprechungen einlassen. Was wir zu vergeben haben, ist ein heldisches Ideal, welches in sich die Kraft hat, zu helfen mit Hilfe der Werkzeuge Familie, Eigentum, Selbständigkeit und Freiheit. Die Erkenntnis, daß wir in unserer Lebenshaltung alle herabsteigen müssen, und daß das am allerunerbittlichsten für die Masse des Volkes gilt, - diese befreiende Lehre ist mehr wert als Zwangsversicherung, die nichts bringt, und die Erwerbslosen-Fürsorge, die die letzte Kraft und Lust zur Arbeit zerstört." Wahrscheinlich präsentiert die "Sozialpolitik deutschen Geistes" vom völkisch-nationalen Politiker Georg Schiele den ausgefallensten, krassesten und reaktionärsten politischen Gegenentwurf zur Sozialpolitik vom Typus Berlepsch / Posadowsky.
Ich
bin aber, solange ich in diesem Amte stehe, Im Reichstag stößt die Fortsetzung der Sozialpolitik auf Widerstand, was von ideologischen Kontroversen begleitet ist. Seine Gegner stellen das
grundsätzlich in Frage. In der Reichstagsdebatte am 9. März 1907 (344/345) weist er als Staatssekretär des Innern diese Fraktion in die Schranken:
Ein Volk, argumentiert er, dass in der Bildung fortgeschritten, stellt im Unglück höhere Anforderungen an seine Lebensführung als die Armenpflege gewähren kann.
"Deshalb kann ein Volk von dem Kulturstande des deutschen Volkes die Sozialpolitik nicht aufhalten und nicht aufgeben, trotz aller stillen und offenen Gegner." Folglich kann die Sozialpolitik kein "verhängnisvoller Schritt" dagegen sein. Seit der freikonservative Abgeordnete Karl Freiherr von Gamp-Massaunen (1846-1918) ab Juni 1907 seine Angriffe gegen ihn, den Vizekanzler richtete, wofür er gleichsam in den Freiherrenstand erhoben, und die Norddeutsche Allgemeine jede Woche vom bornierten Unternehmerstandpunkt aus verleumderische Anklagen gegen die modernen Gewerkschaften erhob, konnte kein Zweifel mehr bestehen, dass die Tage Posas gezählt waren. (VS 25.5.1907) Meist äußern sich, skizziert der Staatssekretär des Inneren am 9. März 1907 (344) die Lage im Reichstag, die Widersacher der Sozialpolitik öffentlich nicht in schroffer Weise. "Die Freunde der Sozialreform" leisten Wühlarbeit. Sie bekämpfen jeden einzelnen (Fort-) Schritt und sorgen dafür, dass für den Schwachen nur das Notwendigste geschieht. "Und, meine Herren," streitet Posadowsky am 5. März 1907 (253) für seine Politik vor dem Hohen Hause, "dass gegen mich in der Öffentlichkeit, persönlich gehässige, giftige und verleumderischen Angriffe gerichtet sind, das ist allgemein bekannt . Es gibt eben Richtungen, die wollen, dass ein Staatssekretär gegen Sozialpolitik besteht.
"Die offnen und stillen Gegner der Sozialpolitik werden für unsre Arbeit nicht zu gewinnen sein, und wenn wir mit Engelszungen redeten. ....", warnt Posadowsky am 12. Juni 1911 auf dem Zweiten Deutschen Wohnungs-Kongress in Leipzig. "Man hört das Wort, nun möge man einmal mit der Sozialpolitik aufhören." Er denkt überhaupt nicht daran "damit aufzuhören", wie man ebenso wenig die Industrie- und Landwirtschaftspolitik nicht beenden darf. Er ruft dazu auf:
"Wenn schließlich die Auffassung sich geltend macht, dass nunmehr genug auf sozialpolitischen Gebiet geschehen sei, so liegt hierin eine Verkennung unserer wirtschaftlichen Entwicklung und ihrer sozialen Folgen. Die schnelle Volksvermehrung Deutschlands, das Zusammenströmen und Wachsen der Bevölkerung an einzelnen Brennpunkten von Handel und Industrie, die gesundheitsschädigende Wirkung gewisser Produktionsverfahren und die damit verbundenen Gefahren für unsere Volksgesundheit überhaupt stellen der Regierung und allen, die Verständnis für das Wesen der Sozialpolitik besitzen, neue Aufgaben."
Ein
modernes Land kann ohne ein Neben der Sorge um den Besitz, bewegt die Konservativen die Angst um ihr geliebtes preußisches Dreiklassenwahlrecht (Ludwig 1911, 24). An der Kraft des allgemeinen und gleichen Wahlrechts hegen sie tiefen Zweifel. Wobei ihnen andererseits klar, dass keine Regierung in einem halbkonstitutionellen Staat fortgesetzt gegen die Majorität regieren kann. Im Allgemeinen untermauern die Konservativen ihre Ablehnung des gleichen und allgemeinen Wahlrechts mit der Verletzung des Leistungsprinzips so:
Meine Herren", argumentiert Arthur Graf von Posadowsky vor dem Reichstag, "wir haben in Deutschland das radikalste Wahlrecht der Welt ...." "Und ich stelle ferner fest," fährt er fort, "daß in keinen Volke der Welt eine solch lebhafte Neigung zur aufsteigenden Klassenbewegung vorhanden ist, eine solche starke Neigung, seine äußere Lage zu verbessern, in höhere soziale Schichten emporzusteigen, wie in Deutschland." - Im radikalen Wahlrecht und der aufsteigenden Klassenbewegung stecken "wichtige Elemente des wirtschaftlichen und geistigen Fortschritts". (Posa RT 22.02.1905, 4699) Er ist Anhänger des preußischen Dreiklassenwahlrechts. Das bringt für die bürgerlichen Parteien, wie man sie damals nannte, ganz passable Ergebnisse hervor. Zum Beispiel erhielt die SPD bei den Wahlen am 3. Juni 1913 zum preußischen Abgeordnetenhaus mit annähernd soviel Stimmen wie die Konservativen - nur 10 Sitze, während jene 149 Sitze einnimmt.
Posadowsky ist Anhänger des preußischen Dreiklassenwahlrechts, das die Grundlage der "gegenwärtigen Machtstellung der Konservativen als Partei des Agrariertums in Staat und Reich" bildet (Bernstein 1907, 823). Man wird es ungerecht nennen müssen. Trotzdem stellt er es zur Kaiserzeit nicht in Frage, wie andererseits 1918/19 der Übergang zu einem neuen Wahlrecht für ihn kein Problem darstellt und es unterstützt. Die bürgerlichen Parteien und die Sozialdemokratie sind sich in dieser Frage grundsätzlich nicht einig. Zwischen ihn steht das preußische Dreiklassenwahlrecht. Und so darf gespannt wie sich die Debatte am 7. Februar 1906 Reichstag getaltet. Auf der Tagesordnung steht die erste Beratung des von den Abgeordneten Albrecht und Genossen eingebrachten
Im Überblick geurteilt, macht jede Partei dem Prinzip des gleichen Wahlrechts seine Komplimente und jede entzieht sich dann auf spezielle Weise dem sozialdemokratischen Antrag. "Passive Resistenz", nennt das die "Volksstimme" aus Magdeburg. Typisch hierfür das Verhalten vom Zentrum, was es für angebracht hielt, die Begründung seiner ablehnenden Stellungnahme mit dem Bekenntnis zum gleichen Wahlrechts zu verbinden. "Die Parole der Nationalliberalen lautet nicht, Abschaffung des Dreiklassenwahlrechts, sondern Befestigung des Dreiklassenwahlrechts."
Für die Freisinnige Volkspartei redet Justizrat Albert Träger (*1830-1912). Den Antrag der Sozialdemokraten, beide Geschlechter ab zwanzig Jahre die Wahlberechtigung einzuräumen, wollte er nicht mittragen, obwohl er sich als Freund das allgemeinen, gleichen Wahlrechts gerierte. Erwartungsvoll sehen die Mitglieder des Reichstages der Präsentation von Posadowsky entgegen. "Die Bedenken, die ich gegen das allgemeine Wahlrecht habe," spricht er seine Bedenken aus, "sind psychologischer Natur; es ist die Einwirkung, die sich dadurch auf die bürgerlichen Parteien fühlbar macht. Bei dem allgemeinen Wahlrecht, wo man von den Massen gewählt wird, muss man mit großen Effekten arbeiten, man muss, ähnlich wie in der Malerei, impressionistisch malen, um auf weit entfernte Massen durch grobe Effekte zu wirken." "Es gehört ein hohes Maß von Selbständigkeit des Charakters dazu," bringt Graf von Posadowsky seine Erfahrungen ein, "sich nicht den Wünschen der Massen zu fügen, sondern die Massen zu leiten." (Posa RT 7.2.1906, 1088) Damit umschreibt er im Prinzip, was wir gegenwärtig als Populismus bezeichnen oder Alexander Schifrin (1901-1951) als "Sprengstoff in der deutschen Politik" (1932) entschlüsselt. Es ist das allgemeine und gleiche Wahlrecht, das die Bewegung der Massen hervorbringt, und zugleich "die Grundlage" der politischen Macht des deutschen Faschismus, eben "die gelungene Mobilmachung der Wähler" bildet (Schifrin). Vom Standpunkt der politischen Theorie über die Parteien im modernen bürgerlichen Staat kann angesichts dessen nicht umhin, die vom allgemeinen und gleichen Wahlrecht induzierte Bewegung der Massen in der Richtungsgebung potentiell als ambivalent zu charakterisieren. Posadowsky erkannte deutlich die hierin liegenden Gefahren für das gesamte politische System, sprich für den Staat. Doch für dies weitere Analyse und Vorbereitung von Schlussfolgerungen ist heute keine Zeit, danach steht niemand der Sinn. Und auch die Presse schaut ganz anders auf seinen Auftritt im Reichstag. "Nie ist wohl noch eine Rede", urteilt die Volksstimme aus Magdeburg zwei Tage später, "mit großer Spannung erwartet worden"; nie hat aber auch einer seiner Reden so sehr enttäuscht. "In einer Situation, die ein klares, offenes und entschiedenes Bekenntnis der Regierung erfordert, hat sich ihr Vertreter als ein Hans der Träumer vorgestellt, der mit Ideen jongliert, Luftschlösser baut und Seifenblasen nachjagt. Seufzend steht er dann am Scheideweg: das Dreiklassenwahlrecht hat seine schweren Mängel, aber das Reichstagswahlrecht hat sie auch. Denn das Reichstagswahlrecht berücksichtigt nicht die Intelligenz. Das Ideal des Grafen Posadowsky - desselben Grafen Posadowsky der am Tage zuvor über den "Zukunftsstaat" der Sozialdemokratie zu spotten versucht hatte - ist offenbar der unmöglichste oder doch der feinste der aller Zukunftsstaaten, die platonische Republik nämlich, in der Philosophen mit weiser Einsicht und unendlicher Güte das Volk regieren." (VS 9.2.1906) Erstaunlicherweise nehmen große Teile der Öffentlichkeit, sein Bekenntnis zum Dreiklassewahlrecht nachgiebig auf. Vielleicht stimmt sie der folgende Satz versöhnlich:
Hier treten Dissonanzen auf. Über die Erfahrungen der Sozialdemokraten mit dem Dreiklassenwahlrecht schreibt Adolf Leopoldt 1931 in der "Rote(n) Chronik der Kreise Zeitz, Weißenfels, Naumburg" (238):
"Posadowsky ist einsichtig genug," kommt ihn am 7. Februar 1906 die Leipziger Volkszeitung ein Stück entgegen, "um zu erkennen, dass das bestehende Wahlsystem zum preußischen Geldsackparlament nicht zu halten ist ...." Sowohl die "National-Zeitung" wie der "Vorwärts" bewerten seine Rede vom 7. Februar negativ. Gewiss, hegte die SPD zum allgemeinen und gleichen Wahlrecht Erwartungen, die er nicht erfüllte. Und die Nationalen vermuteten nach seinem Auftritt gleich einen Generalangriff auf ihre existentiellen Interessen. Beide vernachlässigen, dass er für den Parlamentarismus streitet und ehrlich für eine politisch emanzipierte Arbeiterschaft eintritt. Den Scharfmachern, der Sammlungsbewegung (um Miquel) und der reaktionären Masse, stellt er im Dezember 1905 seine geronnene politischen Erfahrungen entgegen:
Absentismus versus Pflichtencodex zurück
Graf von Posadowsky missfällt der Absentismus, einer Erscheinung des deutschen Parlamentarismus. Er äußert sich sich darin, dass in vielen Verhandlungen des Reichstags die Abgeordneten nicht anwesend sind. Etwas verdrossen äußert er am 12. Dezember 1905 im Reichstag:
Der Absentismus bedeutet eine schweres Vergehen gegen den Pflichten-Codex des Abgeordneten und ist eine Gefahr für den Parlamentarismus. Die Zahlung von Tagegeldern an die Abgeordneten hat - nach seiner Ansicht - darauf keinen Einfluss, weil sie für die meisten Abgeordneten keine wirtschaftliche Bedeutung haben. Außerdem werden ein Teil von ihnen vielfach durch anderweitige Umstände daran gehindert, an den Sitzungen teilzunehmen. Ursache dafür ist ihre Überbeanspruchung durch das öffentliche Leben. Zudem rauben Wiederholungen den Abgeordneten viel Zeit. Hinzukommt ein "Übermaß von Beredsamkeit im Parlament". Bei enormen Häufung von Sitzungen in den Fraktionen und Kommissionen, der Überlastung der Abgeordneten mit Ehrenämtern, schöpft Posadowsky aus seinen Erfahrungen, sei es unvermeidlich, dass der Parlamentarismus verflache.
Das gastfreundliche Deutschland Wiener Sonn- und Montags-Zeitung 1906 zurück Wer nach der Russischen Revolution vom Januar 1905 im Meldeformular der Berliner Polizei "Aus Russland" einträgt, erhält den Rang eines "lästigen Ausländers" zuerkannt und wird, "mag er auch noch so harmlos und unpoltisch sein", berichtet am 7. Mai 1906 die Wiener Sonn- und Montags-Zeitung, "des Landes verwiesen". Darunter sind Kaufleute, Fabrikanten, Gutsbesitzer, Gelehrte, Studenten, Handwerker, Händler, Arbeiter und Dienstboten. Das Motto heißt, gestützt auf die Ideenassoziation "Rußland gleich Revolution", Sicher ist sicher. Erst Opfer der russischen Reaktion, "jetzt Opfer der deutschen Grausamkeit und Polizeiwillkür". "Besonders sind", stellt am 3. Mai August Bebel im Reichstag fest, "von den Ausweisungen die russischen Juden betroffen." "Das Land der Dichter und Denker könnte wohl darauf bedacht sein," regt die zitierte Zeitung aus der Haupstadt des befreundeten Landes an, "nicht vom Ausland zum "Land der Richter und Henker" umgereimt zu werden."
Am 3. Mai 1906 befasst sich der Reichstag mit der Russophobie deutscher Ämter, wobei zu beachten ist, dass zwar die Fremdenpolizei der Aufsicht des Reiches unterliegt, aber ihre materiellen Regelung und Handhabung den Einzelstaaten überlassen wird. Ohnehin wäre es den Reichsbehörden nicht möglich, die Ausweisungen in den verschiedenen Bundesländern zu prüfen. Ein besonderer deutsch-russischer Niederlassungsvertrag besteht nicht. Aus all diesen Gründen, antwortet Graf von Posadowsky, lehnt der Reichskanzler die Verantwortung ab. (Posa RT, LVZ 4.5.1906) August Bebel zweifelt, ob diese verwaltungsrechtlich begründete Antwort politisch klug war. Wohl hat sich das Deutsche Reich in Handels- und Freundschaftsverträgen, das Recht vorbehalten "lästige Ausländer" auszuweisen. Doch in einer Reihe von Vereinbarungen ist die Gleichstellung mit den deutschen Landesangehörigen festgelegt, womit praktisch eine Ausweisung nahezu undenkbar. Russische Staatsangehörige haben gemäß dem deutsch-russischen Handels- und Schifffahrtvertrag das Recht Handel und Gewerbe im Deutschen Reich auszuüben. Doch "Die Polizeibehörde weist nach Gutdünken aus, und wenn der Betreffende verlangt, wenigstens die Gründe für seine Ausweisung zu erfahren, damit er imstande ist festzustellen, ob ein Recht dazu vorliegt, ob nicht die Polizei selbst falsch über ihn unterrichtet ist, so wird ihm in allen Fällen erklärt: du hast keinen Anspruch darauf, das zu erfahren, wir haben keine Verpflichtung, es dir zu sagen und damit basta." (Bebel RT, LVZ 4.5.1906)
Die Einkreisungs-Doktrin zurück Am 24. August 1924 wird an der Nordwand des Kreuzgangs vom Naumburger Dom zu Ehren der im Krieg gefallenen Domschüler eine steinerne Gedenktafel eingeweiht. Zu diesem Anlass spricht der Dechant des Naumburger Domkapitels Arthur Graf von Posadowsky-Wehner Worte des Gedenkens. Als er in das Jahr 1914 zurückblickt, die Zeit "der trüben Flut politischen Hasses und heimlicher Begehrlichkeit unserer Feinde ringsum", da schimmert sie wieder durch - die Einkreisungs-Doktrin. "Ringsum" erhält allerdings in der Reichskronen-Rede vom Januar 1919 durch die Entkopplung von der Weltpolitik eine neue Bedeutung, was sich bereits im Oktober 1918 in der Reichstagsrede (RT 23.10.1918, 6202) mit folgender Wendung andeutete:
Die Einkreisungs-Doktrin, wie sie Bernhard von Bülow am 14. November 1906 vor dem Reichstag popularisiert, leistet bei der Verfeindung der Staaten nützliche Dienste. Und das, ziemlich nachhaltig. Während der Entfesselungskünstler Harry Houdini am 8. Dezember 1915 dem staunenden Publikum vorführt, wie man sich aus der Zwangsjacke frei in der Luft an einem Seil hängend befreien konnte, gelingt es den meisten Deutschen nicht, sie je wieder abzulegen. Selbst Kaiser Wilhelm II., außerstande die komplizierte Risikostrategie des Generalstabes zu durchschauen, wähnte sich als unschuldiges Opfer einer angeblich von langer Hand vorbereiteten Einkreisungspolitik der Entente (Mommsen 2005, 221). Deutschland ist nicht aggressiv. Wirklich nicht: Als der Deutsche Reichstag am 30. Juni 1913 nach dritter Lesung die Wehrvorlage verabschiedet, erkennt die Majorität des Hohen Hauses in der Erhöhung der Friedensstärke des Heeres um 117 267 auf 661 478 Mann, darin keinen Akt potentieller Bedrohung des Nachbarn. Denn es dient lediglich der Herstellung Deutschlands Wehrfähigkeit, dass von Frankreich, Großbritannien und Russland umstellt. Zweifellos konnte mit der Einkreisungs-Doktrin die Erhöhung der Friedensstärke des Heeres und die Flottenrüstung ideologisch begründet werden. Aber welchen Umstand verdankt die Wehrvorlage wirklich ihr Leben? War es tatsächlich die Einkreisungs-Doktrin oder der Verlust jeder bürgerlichen Opposition durch die "Entfesselung der chauvinistischen Instinkte" (Emil 1906/07, 133) In der deutschen Politik kam ihr ein hoher Stellenwert zu. Gustav Stresemann (1878-1929) spricht am 13. April 1919 (913) auf dem Parteitag der Deutschen Volkspartei (DVP) in Jena "von dem von allen Seiten bedrohten Deutschen Reich". Paul Rohrbach (1869-1956) entdeckt 1920 in Monarchie, Republik ...., dass die Einkreisung-Doktrin ein notwendiges Moment zur Bildung der "Einheit des nationalen Empfindens" war. Adolf Hitler mobilisiert 1925 in Mein Kampf die Einkreisungs-Doktrin, um die Deutschen zur Politik der Wehrhaftigkeit zu drängen. Das Kapitel "Deutsche Bündnispolitik nach dem Kriege" souffliert: "Deutschland als Militärstaat war im Jahre 1914 eingekeilt zwischen zwei Länder, von denen das eine über die gleiche Macht und das andere über eine größere verfügte. Dazu kam die überlegene Seegeltung Englands. Frankreich und Rußland allein boten jeder übermäßigen Entwicklung deutscher Größe Hindernisse und Widerstand."
Kolonialpolitik zurück Bereits unter der Kanzlerschaft von Leo von Caprivi (1890-1894) äußert Posadowsky, dass die deutsche Kolonialpolitik, obwohl sie doch den Kern der Weltpolitik darstellt, nicht zur Stärkung der wirtschaftlichen und politischen Macht Deutschlands beiträgt. In dieser Frage bestehen zwischen ihm und dem Reichskanzler Bernhard von Bülow (RT 1906, 3958) deutliche Meinungsunterschiede. Letzterer stellt mit Nachdruck fest:
Er misstraut den typischen Propaganda-Statements. Weder ist die Kolonialpolitik nach seiner wissenschaftlich begründeten Überzeugung ein Mittel gegen die Arbeitslosigkeit noch gegen die angebliche Überbevölkerung, die überhaupt nicht existiert. 1911 argumentiert er in der Bielefelder-Rede: "Alle kolonialen Erwerbungen hat man bisher damit begründet, dass wir bei unserer schnell wachsenden Volkszahl Gebiete für deren Auswanderung erwerben müssen. Es ist aber falsch, zurzeit von einer Überbevölkerung Deutschlands zu sprechen." Am 18. Januar 1912 hörte von ihm das Publikum im Volkshaus zu Jena:
Es besteht also kein völliger Gleichklang zwischen den Ausführungen der Bielefelder- und Jenenser-Rede. Ein logischer Widerspruch liegt nicht vor. Man könnte eher sagen, er analysiert und bewertet die deutsche Kolonialpolitik, in dessen Ergebnis Dissonanzen zur Kolonial-Propaganda entstehen. Er kritisiert die Kolonialpolitik, lehnt sie aber nicht ab. Ein zweiter Kritikpunkt der Bielefelder-Rede lautet: "Wir haben ein ungeheures Kolonialgebiet zu erschließen, wozu gewaltige finanzielle Mittel im Laufe der Zeit notwendig sein werden. Große, wilde Flächen ohne reiche Mittel zu ihrer Erschließung sind aber rein imaginäre Werte. Ein Land wo die Europäer nicht arbeiten können, und die Eingeborenen nicht arbeiten wollen, bedeutet keine Verstärkung unserer wirtschaftlichen und politischen Macht." [Kolonialkongress zurück] Am 5. Oktober 1905 eröffnet Herzog Johann Albrecht von Mecklenburg in Berlin den Deutschen Kolonialkongress. Arthur Graf von Posadowsky-Wehner folgt in der Eigenschaft als Stellvertreter des Reichskanzlers der Einladung. Die koloniale Stimmung in der Bevölkerung verschlechterte sich in jüngster Vergangenheit auf Grund der Ereignisse in Afrika deutlich. "Die Schwierigkeiten sind in den kolonialpolitischen Kreisen unterschätzt worden." (Das Vaterland 6.10.1905) Seine Ansprache widerspiegelt den Ernst der Lage in den Kolonien. Von Bravorufen und lebendigem Beifall begleitet, stellt er den Einsatz und die Haltung der Kolonialtruppe lobend heraus: "Einen Lichtpunkt in diesen trüben Ereignissen bietet die Haltung unserer Truppen (Bravo!), die unter der schwere des tropischen Klimas, in dem unabsehbaren, wegelosen Gelände mit bewundernswerter Ausdauer ihre Pflicht bis zum Tode erfüllen (Bravo!) und so den alten Ruhm deutscher Soldatenehre von neuem bewährt haben; sie haben sicher
für diesen Dienst am Vaterlande ebenso erworben, als ob sie zur Verteidigung unserer heimischen Grenzen ausgezogen wären. (Bravo)!" Sozusagen in "Dankbarkeit des deutschen Volkes" erhält Dr. Carl Peters (1856-1918) im gleichen Jahr den Titel Reichskommissars a.D. und ab 1914 eine Pension zuerkannt. Doch der Kolonialkrieger war nicht damit einverstanden, dass der gesetzliche Presseverantwortliche der "Münchner Post" Martin Gruber (1866-1936) ihn als "abgeurteilt" schmähte und zerrte ihn deshalb vor das Schöffengericht in München. Sein Verteidiger Doktor Bernheim weicht der Wahrheit nicht aus und vollendet vor dem Richter:
[Aufstand der Maji-Maji zurück] Im Morgengrauen des 20. Juli 1905 r eißen in Nandete im Matumbiland (Deutsch-Ostafrika) eine Frau und zwei Männer Baumwollpflanzen aus dem Boden. Eine Aktion die zum Signal für den Aufstand der Maji-Maji wurde. Es folgen Massaker und Strafexpeditionen bis Chief Chabruma´s Kämpfer durch die deutsche Schutztruppe am 25. Juni 1906 in Ungoni eingeschlossen und vernichtet. Der Aufstand der Maji-Maji gegen die repressive Kolonialherrschaft endet am 18. Juli 1908 mit der Erschießung von Rebellenführer Mpangiro. 1904 traten in Deutsch-Südwestafrika die Herero und Nama (von den Deutschen abschätzig als "Hottentotten" bezeichnet) in den Aufstand. Nach der verlorenen Schlacht am Waterberg, wollten sie durch Omaheke ins Betschuanaland (Botswana) ziehen. Deutsche Truppen verhinderten ihre Wasseraufnahme und ließen sie verdursten. Wer dem Massensterben entkam, vegetierte dahin oder starb oft im Konzentrationslager.
[Weltpolitik im großen Stil zurück] August Bebel prangert am 3. März 1906 im Reichstag die deutsche Ausrottungsstrategie in den Kolonien an und würdigt den Einsatz vom Zentrum-Mann Matthias Erzberger (1875-1921). Allein für Ostafrika, bei Gesamteinnahmen von 4.657.881 und Ausgaben von 11.717.208 Mark, muss das Reich laut Budgetkommission des Reichstages 7.059.827 Mark an Zuschuß leisten. Im August 1906 legt Kanzler Bernhard von Bülow dem Reichstag einen Nachtragshaushalt vor, der zusätzlich 29 Millionen Mark für die Kolonialtruppen und den Bau einer angeblich kriegswichtigen Eisenbahn vorsieht. "Man will Weltpolitik großen Stils treiben,
man will endlich die langersehnte Kolonialarmee schaffen", konkretisiert am 14. Dezember 1906 der Vorwärts aus Berlin das Vorhaben der Regierung. Mindestens 5000 Mann, gegebenenfalls auch mehr, sollen in Südwestafrika bleiben. Es mussten die Truppen in Deutsch-Südwest Afrika verstärkt werden, um die Aufstände der Hottentotten und Hereros gegen die Deutschen niederzuschlagen. Das kostete Geld.
[Kolonialidylle wider den Skandalen zurück] Matthias Erzberger vom Zentrum wendet sich gegen Grausamkeiten der Kolonialkriege, dem Morden und Terrorismus. Er fordert die Reduzierung der Truppen und der beantragten Regierungsgelder. Durch die Veröffentlichung der skandalösen Tätigkeit der Firma Tippelskirch & Co. GmbH forciert der Kandidat für den Reichstagswahlkreis Biberach, Leutkirch, Waldsee, Wangen, die politische Krise, die im Januar 1907 in Neuwahlen einmündet. Das schlechte öffentliche Bild der Kolonialpolitik bereitete ihren Befürwortern zunehmend Sorgen. Bernhard Dernburg (1865-1937) wird im September 1906 zum Leiter der Kolonialpolitischen Abteilung des Auswärtigen Amtes bestellt. Er schönt die Krise der Kolonialpolitik und Ökonomie der Kolonialwirtschaft. Der "Feuerwerker der Kolonialpolitik" (SPD), zeichnet in der Öffentlichkeit eine "Kolonialidylle" in den "rosigsten Farben" mit "Sumpf-" und "Schwindelblüten" und "berauschender Zukunftsmusik". Das sehen die Kolonialschwärmer des besitzenden Bürgertums gerne. "Endlich besteigt er die Rednertribüne, von tausendstimmigen Jubel, Händeklatschen, Getrampel minutenlang begrüßt.", berichtet Pester LLoyd von seinem Vortrag am 8. Januar 1907 in Berlin.
Auflösung des Reichstags Ende 1906 zurück SPD, das Zentrum, die Fraktion der Polen und Welfen lehnen am 13. Dezember 1906 in zweiter Lesung den Nachtragshaushalt zur Finanzierung des Kolonialkrieges in Südafrika in Höhe von 29 Millionen Mark ab. Über die Kolonialgegner ist Reichskanzler Bülow verärgert, sinkt aber, obwohl die Aufklärung einfordernd, über das öffentlichtwerden der Gaunereien des Gutsbesitzers aus der Priegnitz Victor Adolf Theophil von Podbielski, zugleich preußischer Landwirtschaftsminister, tiefer in den Skandal mit der Firma Tippelskirch ein. Auf Anordnung von Kaiser Wilhelm II. löst Bülow das Parlament auf. Als Termin für die Neuwahl wird der
festgesetzt. Um Reichskanzler von Bülow zu stützen, bilden Deutschkonservative, Nationalliberale und Linksliberale ein Wahlbündnis. "Unter der nationalen Parole", ermittelte die Leipziger Volkszeitung, "wurde zum Sturm geblasen gegen die Sozialdemokratie, Zentrum, Polen und Welfen."
Reichstagswahlkampf zurück Arthur Graf von Posadowsky-Wehner ist auf einem Foto aus der Zeit des Reichstagswahlkampfes 1907 in der Bildmitte gut zu erkennen. Es ist eine Aktion der Freisinnigen Volkspartei. An der linke Seite des Bildes ist ein Plakat, mit dem Schriftzug "Meininger Kandidat aller freisinnigen Wähler" zu sehen. Schwerlich zu glauben, daß die Aktion gegen die Kolonialpolitik und Militärvorlagen gerichtet, wechselte sie doch längst in das Lager der Flottenrüstung und Weltpolitiker.
Am unteren linken Bildrand prangt am Plakat der Name des Juristen "Kaempf", dem Stadtrat von Berlin, Reichstagspräsident von 1912 bis 1918 und Fraktionsvorsitzender der Freisinnigen Volkspartei, entgegen. Er kandidiert am 25. Januar 1907 zum 12. Deutschen Reichstag im Wahlkreis Alt-Berlin, Cölln, Friedrichswerder, Dorothenstadt und Friedrichstadt-Nord für die Freisinnige Volkspartei und erhält in der Stichwahl 6076 Stimmen. Für seinen SPD-Gegner, den Physiker Martin Leo Arons (1860-1919), zählt man 5040 Stimmen aus. [Reichstagwahlen 1907 in Zahlen zurück] Am 25. Januar 1907 ist Wahltag. 28,9 Prozent der Wähler entscheiden sich für die SPD und damit 2,8 Prozent der Stimmen einbüßt und 38 Sitze verliert. Das Zentrum erreicht im Vergleich zu den letzten Wahlen fast unverändert 19,4 Prozent und erhält 5 Sitze mehr, die Nationalliberale Partei 14,5 Prozent und die Deutschkonservativen 9,4 Prozent. Der Bülow-Block stützt auf die Deutschkonservativen (60 / = + 6), Nationalliberale Partei (55 / = + 4), Deutsche Volkspartei (7 / = + 1), Deutsche Reichspartei (24 / = + 3), Freisinnige Volkspartei (28 / = + 7) und Freisinnige Vereinigung (14 / = + 5).
[Fehleranalyse zurück] Die Sozialdemokraten im Wahlkreis Naumburg-Zeitz sind tief enttäuscht vom Wahlergebnis, weil das Mandat von Adolf Thiele (*26.9.1853) verloren ging. Die Mängel- und Fehleranalyse der SPD zur Reichstagswahl 1907 fällt hart aus. "Die "Gemäßigten" und "Taktierer" machten, die "Radikalen", also Genossen wie Rosa [Luxemburg] für die Niederlage verantwortlich." (Max Gallo 1988, 226) Das "Einströmen neuer Wählermassen," meint die Volksstimme aus Magdeburg, "die bisher unterhalb des politischen Bewußtseins lebten, hat den bürgerlichen Parteien für den Augenblick ein starkes Übergewicht verschafft". "Das Kennzeichen der Wahlen ist das Aufhören der bürgerlichen Opposition", urteilt die Leipziger Volkszeitung vom 28. Januar 1907. "Was übriggeblieben, ist ein trostloser Brei." Es ist ein Rechtsruck. Das Volk muss die Kosten der Flotten- und Kolonialpolitik zahlen. Die Konservativen fordern eine Änderung des Reichstagswahlrechts und greifen das Koalitionsrecht der Arbeiter an. Bei Franz Mehring (1907) fällt die Vermessung der Wahlniederlage drastischer aus. Für ihn ist sie Folge der Hohlheit und Nichtigkeit des Geredes, als seien die Wahlverluste eine Erfrischung oder Erneuerung des nationalen oder liberalen Gedankens. Jetzt soll die liberale Bourgeoisie die willige Dirne der ostdeutschen Junker spielen. Mit einem "Platzregen notorischer Reden", heißen die konservativen "Verbündeten" sie willkommen. Irgendwie wird man das Gefühl nicht los, dass den Genossen und Genossinnen trotz manch realistischer Sentenz, das eigentliche Unglück nicht klar ins politische Bewußtsein dringt, dass die libertäre Kultur, die für Sozialdemokratie den weltanschaulichen Unterbau bildet, schweren Schaden nimmt. "Die Einbindung auch der linksliberalen Parteien in einen rechtskonservativen "Block" durch Reichskanzler von Bülow 1908/07", beleuchtet 1993 Robert Hofmann (41) die politische Rochade, "signalisiert eine weitere Abkehr von den Prinzipien linksliberaler Politik." Die Folgen wirken nachhaltig und tiefgreifend auf die kommenden Epochen der staatlichen Macht in Deutschland.
[Bebels Nörgelpolitik zurück] Die Sozialdemokraten sind die klaren Verlierer der "Hottentotten-Wahlen". Ein Triumph für Reichskanzler Bernhard von Bülow, den er in seiner Rede
vor dem Reichstag auskostet. Bebel treibt, wirft er ihn vor, eine "Verneinungs- und Nörgelpolitik". Verbunden damit ist eine "unpatriotische Haltung", weshalb die Niederlage der Sozialdemokraten "wohl verdient" und die Strafe "für einen engherzigen, dogmatischen, kleinlichen, philaströsen Geist, der blind gegen alle Andersdenkenden wütete" war, "Soll ich Sie an das Ketzergericht in Dresden erinnern?", fragt Bülow. "Soll ich Sie daran erinnern an die Art und Weise, wie sie die sechs armen Redakteure des "Vorwärts" an die Luft befördert wurden?" "Die Niederlage der Sozialdemokratie war aber auch wohlverdient, weil sie die Strafe war für eine politische Kampfesweise und für eine publizistische Methode, wie sie so brutal die gebildete Welt doch noch kaum gesehen hat. (Sehr richtig!)" "Unglaubliches ist [von den Sozialdemokraten] geleistet worden, nicht nur im herunterziehen nationaler Empfindungen und Gefühle, sondern auch in der Beschimpfung der Gegner" und dem "Sauherdentum", der sozialdemokratischen Presse. "Ich erwarte", kündigt der Reichskanzler an, "daß die Behörden ihre Schuldigkeit tun und daß sie die öffentliche Ordnung und Freiheit der Bürger gegenüber sozialdemokratischem Terrorismus mit Energie schützen werden". Die Sozialdemokratie ist nach Einschätzung des Reichskanzlers immer fanatischer, immer terroristischer und immer kulturwidriger geworden. Ein Perspektive und Bewertung der Ereignisse, die Posadowsky nicht teilt. Sie enthält versteckte, gefährliche politische Implikationen, die nicht seinen Vorstellungen und Zielen im Ringen um wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt mit der Sozialdemokratie genügen. [Die Probleme stapeln sich zurück] Manchmal schlossen Posadowskys Reichstagsreden jetzt ohne fröhlichen Rabbat ab, zum Beispiel am 11. Dezember 1905 über die Diäten und Afrika-Bahn (Lüderitzer-Bahn im Südwesten von Namibia), wo das Geld nicht bewilligt wurde. "Keine Bahn für Afrika vor Weihnachten, keine Diäten nach Neujahr!" So der kurze Sinn seiner langen Rede, schreibt am nächsten Tag die National-Zeitung (Berlin). Das machte keine gute Stimmung für ihn. Egal ob aus der Sicht der parlamentarischen Kräfteverhältnisse, Fortführung Sozialgesetzgebung oder Führungskrise der Reichsleitung, in Deutschland stapeln sich die ungelösten Probleme: Finanzierung der Flottenrüstung, Konfrontation mit England, unfruchtbare Kolonialpolitik, gefährliche Konkurrenz beim Kapitalexport, zyklische ökonomische Krisen mit Massenarbeitslosigkeit, Entstehung monopolistischer Märkte, zunehmende Klassenkonfrontation (Generalstreikdebatte) und krasse Wohnungsnot der Unterklasse. Dennoch war die parteipolitische Konstellation im Reichstag für die Sozialpolitik z u n ä c h s t nicht ungünstig. "Die Sozialpolitik der letzten Friedensjahre des Kaiserreichs .... Das Jahr 1906", will sagen: "Das für Sozialpolitik zuständige Mitglied der Reichsleitung, der Staatssekretär im Reichsamt des Innern,
konnte für entsprechende Vorlagen noch bis zum Jahresende 1906 auf Rückhalt in der Fraktion des Zentrums rechnen. Deren Politik wurde von ihrem linken Flügel bestimmt, der in der Fraktion die Mehrheit besaß und sowohl für eine Demokratisierung der Verfassung als auch für eine emanzipatorische Sozialpolitik eintrat. Gerade zur letzteren hatte er seine diesbezüglichen Forderungen in der Aussprache über die Sozialpolitik während der zweiten Lesung des Reichsetats vom 1. bis 6. Februar 1906 nachdrücklich vertreten: eine Vorlage über die Rechtsfähigkeit der Berufsvereine, eine Heimarbeiterversicherung, die Ausdehnung der Krankenversicherung auf alle Arbeiter in der Landwirtschaft, eine Beschleunigung der Vorarbeiten zur Witwen- und Waisenversicherung sowie ein Ausbau des Arbeiterschutzes wurden angemahnt." (Über Posadowsky im Jahr 1906: 1987, 1-10) Anders formuliert: "Ohne die reformfreundlichen Kräfte im Reichstag, insbesondere des Zentrums, hätten Posadowskys Pläne wohl kaum verwirklicht werden können." (Schmidt 2007) Das Zentrum, so hieß es eben, war seine Hauptstütze. Doch es griff an und wurde angegriffen.
Zentrumspolitiker Karl Bachem (1858-1945) erlebte diese Zeit als Aufflammen der Hetze gegen seine Partei. Der Vertreter des Reformflügels warnt daraufhin vor der Überspannung des Konfessionalismus. Denn es darf nicht der Eindruck entstehen, als ob die Partei eine katholische Fraktion sei. Vor allen Dingen möchte die Partei sich jetzt um Abgeordnete bemühen, heißt es weiter im Aufsatz
der im 1. März 1906 in München erschienen, "welche gute Fühlung mit dem Zentrum zu nehmen und zu unterhalten willens und geeignet sind". (Bachem 1913, 23 + 24)
Ende
des
Jahres
1906
schnüren
sich
die
Konflikte
zum
Paket:
Fleischnot,
Podbielski-
und
Kanzlerkrise,
Polen-
und
Kohlenstreik
und
Tschirschky-Politik
[Behandlung
der
Marokko-Krise
durch
den
Staatssekretär
des
Auswärtigen
Amtes].
Und
das
ist
noch
nicht
alles.
Unter
"Matthäi
am
-
vorletzten",
unterrichtet
am
8.
Januar
1906
die
Morgenausgabe
des
Berliner
Tageblatt:
Ultramontane
fordern
den
Rückzug
in
der
Polenfrage.
Scharfmacher
wollen
der
Arbeiterbewegung
die
Zähne
zeigen.
Die
Agrarier
wünschen
wegen
den
Teuerungen,
eine
chinesische
Mauer
um
das
Deutsche
Reich
zu
bauen.
Und
die
Nationalliberalen
möchten
alle
Übel
heilen,
indem
sie
nach
fünfunddreißig
Jahren,
den
leitenden
Männern
endlich
die
Wahrheit
geigen.
So
bricht
die
alte
Frage
aus
dem
Auerbach-Keller
auf:
"Das
lieb
heil`ge
Römische
Reich,
wie
hält´s
nur
noch zusammen?"
Posadowsky oder Moltke? zurück Es kursieren Gerüchte um den Kanzlerposten. Das Zentrum glaubt mit Posadowsky einen Kandidaten für das Reichskanzleramt zu haben (Die Kieler Entscheidungen 25. 6.1907). Man kann nicht ärger fehlgreifen, meint über derartige Gerüchte am 31. Januar 1907 das "Neue Wiener Tagblatt". "Vor der Schlacht" vermutet auf diesem Hintergrund die sozialdemokratische Arbeiter-Zeitung aus Wien:
Auf welche Einflüsse deutet Posadowsky 1919 noch hin? Vielleicht die Ereignisse um den Liebenberger Kreis? Das erinnert an die Einschätzung der Leipziger Volkszeitung vom 26. Juli 1907:
Es wird sich bald alles entscheiden, teilt im optimistischen Unterton am 8. November 1906 die Abendausgabe des "Berliner Tageblatt" mit. Der Kaiser wird bald von seiner Fahrt aus Liebenberg, wo er im Kreise Eulenburg weilt und wohin der Chef des Generalstabes der Armee Generalleutnant von Moltke begleitet hat, zurückkehren. (BT 8.11.1906, AA) Maximillian Harden (1861-1927) wirft Philipp zu Eulenberg (1847-1927) und den "Liebenberger" am 27. November 1906 in der Zeitschrift "Die Zukunft" vor, seit langer Zeit, gestützt auf ihre persönlichen Verbindungen zum Monarchen, eine Nebenregierung zu bilden. Dabei soll die Reichsleitung, und das spricht Bände über die Ereignisse, zweimal vor den Westmächten zurückgewichen sein. Bülows Position gilt fortan als angeschlagen. (Mommsen 2005, 129/130). Harden polemisierte schon länger gegen das persönliche Regiment Wilhelm II.. Nach der "Daily-Telegraph Affäre" 1908 forderte er dessen Rücktritt. Offenbar war die Stellung des Reichkanzlers durch die Ereignisse um die Liebenberger Tafelrunde erschüttert.
lautet am 8. November 1906 unter der Überschrift "Moltke Dynastie" die erste Textzeile in der Abendausgabe des Berliner Tageblatts. Das Morgenblatt verkündete bereits:
Bis zum Rücktritt würden angeblich nur noch zwei Monate ins Land gehen. "Der Name des kommenden Reichskanzlers ist aller Voraussicht nach Helmuth von Moltke."
Wiederholung,
zusammen
mit
Polen,
Welfen
und
Sozialdemokraten
lehnt
am
13. Dezember
1906
die
Zentrumspartei
einen
Nachtraghaushalt
von
29 Millionen
Mark
ab.
Reichskanzler Bernhard von Bülow will sich nicht in die Regierungspolitik hineinreden lassen. Ein wenig aufgeladen und verärgert klingt es denn schon, wie er sich am 13. Dezember 1906 (4379) dem Reichstag mitteilt:
Also hinaus mit ihm! zurück Da war also der forcierte Flottenbau, die Entfremdung von England, Hänge-Peters und die deutsche Kolonialpolitik, die Eroberung von Tsingtau (Qingdao) und der chinesische Widerstand gegen die Unterdrückung, Ausbeutung und christliche Missionierung durch den Westen. Und im deutschen Lande, infolge des umsichgreifenden, einengenden Nationalismus alldeutscher Art, die jetzt immer öfter anzutreffende Selbstüberschätzung der wirtschaftlichen Leistungskraft. An die bruchlose Fortsetzung dieser Politik durch einen Reichskanzler Posadowsky glauben nicht alle. "Es muss Leute geben," trägt am 26. Januar 1907 die Arbeiter-Zeitung aus Wien einen Tag nach der Reichstagswahl weit ins Land, "die sich vor einem Reichskanzler Posadowsky fürchten." Also hinaus mit ihm! Während dem v i r t u e l l e n Kellerfest, dass "Der Wahre Jacob" im April 1907 für den Hottentotten Block veranstaltet, schiebt ihn die politische Rechte aus dem Fenster.
Fünf Gründe zurück Wie bereits erwähnt, tauchten Anfang Juni 1906 in der Presse die ersten Gerüchte über den bevorstehenden Rücktritt von Posadowsky auf. Daraufhin erklärten einige Zeitungen, etwa das "Deutsche Volksblatt" am 3. Juni 1906 in Wien, dies "als vollkommen unbegründet". Die "Frankfurter Zeitung" trieb ihre eigenen Planspiele. Theobald von Bethmann Hollweg (1856-1921) soll an seine Stelle treten, auf dessen Stelle dann der Posener Oberpräsident von Wilhelm von Waldow (1856-1937) treten soll. Eine "gewisse Unzufriedenheit über die Haltung Posadowskys bei der jüngsten Südafrikadebatte", registrierte laut "Das Vaterland" (6.6.1906) die Münchner "Allgemeinen Zeitung". Im Zusammenhang mit den Widerständen gegen die Sozialpolitik, daran sei hier nur kurz erinnert, wurde die harsche Kritik der "Deutsche(n) Arbeitgeber-Zeitung" vom 24. Juni 1906 an der Politik von Posadowsky erörtert. Er ist es, sagten sie, "der in erster Linie für den gesamten heutigen Zustand dieser Seite unseres öffentlichen Lebens die Verantwortung trägt". Für seinen Rücktritt nennen die Quellen unterschiedliche Gründe. Zum Beispiel behauptet am 25. Juni 1907 die "Coburger Zeitung", dass zwischen Reichskanzler und Grafen Posadowsky "Unstimmigkeiten in sozialpolitischen Fragen" herrschen, die Ersteren zum Vortrag beim Kaiser in Kiel drängten. Andere, etwa das "Czernowitzer Tagblatt" vom 26. Juni, "versichern, dass die Sozialpolitik mit Posadowsky Ausscheiden nichts zu tun habe". Es sind vor allem folgende Gründe, die ihn im Juni 1906 veranlassen sein Rücktrittsgesuch einzureichen: (1.) Was ziemlich gewiss, der Bruch mit Bülow. (2.) Keineswegs gewiss hingegen, die "Fremdeinwirkung" vom "Vorwärts" auf Posadowsky, aber doch interessant zu erörtern, soweit es eine Spiegelung obskurer Verhältnisse. (3.) Er gerät in Gegensatz zu Bülows Blockpolitik und ist - so betrachtet - ihr Opfer. (4.) Seine Gegner nutzen eine allgemeine Abnutzungsstimmung aus. (5.) Er sprach ein ehrliches Wort zuviel.
[1.] "Bülow-Schlächterei" zurück Verschiedentlich liest man, zuweilen nur nebulös angedeutet, dann wieder klar ausgesprochen, Nachrichten über angebliche und wirkliche Differenzen zwischen Bernhard von Bülow und seinem Staatssekretär des Innern. Paul
Wittko
erzählt
1925,
dass
Posadowsky
unter
Reichskanzler
Carl
Viktor
Fürst
von
Hohenlohe-Schillingsfürst
seine
"starkgeistige
und
früchtereiche
staatsmännische
Tätigkeit
ungehindert
ausüben"
konnte.
Als
im
Herbst
1900
Bernhard
von
Bülow
übernahm,
da
brachten
die
"Temperamentunterschiede
dieser
beiden
Männer
bald
allerhand
Misshelligkeiten
zu
Tage".
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